/ November 26, 2024/ Buch

Mit ihrem Roman Kein Herz, nirgendwo (im Original: Il cuore non si vede) präsentiert Chiara Valerio eine ungewöhnliche und tiefsinnige Geschichte, die humorvoll, ironisch und zugleich nachdenklich daherkommt. Übersetzt von Christiane Burkhardt, ist dieses Werk ein faszinierender literarischer Ausflug in die Absurditäten des Lebens, der Identität und der Liebe.

Ein rätselhafter Verlust

Der Protagonist Andrea Dileva erwacht eines Morgens und muss feststellen, dass sein Herz verschwunden ist. Doch statt an diesem gravierenden Verlust zu sterben, lebt er unbeirrt weiter – als wäre nichts geschehen. Nach und nach verabschieden sich weitere Teile seines Körpers, doch der scheinbar unzerstörbare Andrea bleibt erstaunlich lebendig. Dieses surreale Setting bildet den Ausgangspunkt für eine ironische Reflexion über das Leben eines Mannes, der sich buchstäblich „verliert“.

Das Verschwinden von Andreas Herz ist weit mehr als ein biologisches Phänomen. Es wird zur Metapher für eine schleichende Entfremdung, nicht nur von sich selbst, sondern auch von den Menschen in seinem Umfeld. Sein Leben ist geprägt von Beziehungen zu Frauen, die alle auf ihre Weise versuchen, ihn zu verstehen, zu retten oder zu beeinflussen: Laura, seine Lebensgefährtin; Carla, die platonische Geliebte; und Angelica, die Kindheitsfreundin und Ärztin, die sich am meisten um ihn sorgt. Doch je mehr Andrea körperlich verschwindet, desto stärker treten die Schwächen und Unzulänglichkeiten seiner Beziehungen zutage.

Frauen, Liebe und die Frage nach Identität

Die Frauen in Andreas Leben spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte, nicht nur als Figuren, sondern auch als Spiegel seines eigenen Seins. Jede von ihnen symbolisiert eine Facette seines Daseins: die Vertrautheit, die Sehnsucht nach Nähe und die medizinisch-pragmatische Perspektive auf seinen Zustand. Doch statt Lösungen oder Erlösung zu bieten, werfen sie neue Fragen auf. Ist Andrea wirklich der Mann, den diese Frauen zu kennen glauben, oder ist er längst zu einem Schatten seiner selbst geworden?

Chiara Valerio beschreibt diese Beziehungen mit einer Mischung aus feiner Ironie und tiefem Verständnis für menschliche Schwächen. Die Dynamik zwischen den Figuren ist komplex und glaubwürdig, wobei Valerio sich nicht scheut, auch unbequeme Wahrheiten über die Liebe und das menschliche Miteinander offenzulegen. Gleichzeitig hält sie der Gesellschaft den Spiegel vor: Was bedeutet es, ganz zu sein? Und was passiert, wenn wir uns selbst nicht mehr verstehen oder definieren können?

Surrealismus trifft auf Alltägliches

Der Reiz des Romans liegt nicht nur in seiner originellen Prämisse, sondern auch in der Art und Weise, wie Valerio das Absurde mit dem Alltäglichen verwebt. Die surreale Idee des „körperlichen Verschwindens“ wird mit einer erfrischenden Leichtigkeit beschrieben, die weder dramatisch noch grotesk wirkt. Stattdessen nutzt die Autorin diese absurde Situation, um tiefere Fragen zu stellen: Wie viel von uns selbst hängt von unserem physischen Zustand ab? Und was bleibt von einem Menschen, wenn er nach und nach seine Substanz verliert?

Die Sprache Valerios ist voller Witz und Lebendigkeit. Ihre Erzählweise funkelt vor kluger Ironie, ohne den Leser jemals zu belehren. Besonders beeindruckend ist, wie sie es schafft, die existenziellen Fragen des Lebens mit einer spielerischen Leichtigkeit zu behandeln, die den Roman zu einem Vergnügen macht.

Ein Mann im Wandel

Andrea ist kein Held im klassischen Sinne, sondern ein Durchschnittsmensch, dessen passiver Umgang mit seiner körperlichen Auflösung manchmal zum Schmunzeln, manchmal zum Kopfschütteln anregt. Seine emotionale Unbeteiligtheit und sein mangelndes Interesse an seiner eigenen Verwandlung machen ihn zu einer faszinierenden, wenn auch schwer greifbaren Figur. Er ist ein Mann, der sich buchstäblich „abhandenkommt“ – und doch bleibt er für die Leser bis zur letzten Seite präsent.

Diese paradoxe Spannung zieht sich durch den gesamten Roman: Andrea verliert sich selbst, aber der Leser entdeckt in seinem Verschwinden die Essenz seiner Persönlichkeit. Dieses Spiel mit Identität und Existenz ist eine der größten Stärken des Romans und macht ihn zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis.

Ein seltenes literarisches Vergnügen

Kein Herz, nirgendwo ist ein Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch nachklingt. Valerio lädt den Leser ein, über die großen Themen des Lebens nachzudenken – Liebe, Verlust, Identität – ohne dabei in Schwermut zu verfallen. Ihre humorvolle und intelligente Erzählweise macht das Buch zu einer echten literarischen Perle.

Chiara Valerio beweist mit diesem Werk ihr Talent, surreale Elemente in eine universelle Geschichte über das Menschsein zu integrieren. Die Übersetzung von Christiane Burkhardt bringt Valerios lebhafte Sprache und ihren feinen Witz gekonnt ins Deutsche, sodass auch deutschsprachige Leser den vollen Genuss dieser außergewöhnlichen Erzählung erleben können.

Fazit

Kein Herz, nirgendwo ist ein brillant erzählter, origineller Roman, der durch seine Mischung aus Humor, Surrealismus und existenziellen Fragen besticht. Chiara Valerio nimmt den Leser mit auf eine Reise durch das Leben eines Mannes, der sich selbst verliert, und zeigt dabei, wie viel Substanz auch im scheinbaren Nichts liegen kann. Ein Buch, das unterhält, inspiriert und zugleich zum Nachdenken anregt – ein literarisches Erlebnis, das man nicht verpassen sollte.

  • Herausgeber ‏ : ‎ nonsolo Verlag; erste Edition (3. September 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 184 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3947767218
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3947767212
  • Originaltitel ‏ : ‎ Il cuore non si vede
  • Abmessungen ‏ : ‎ 20.9 x 13.7 x 2 cm

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