/ Oktober 25, 2024/ Buch

4

Müllschlucker: Verloren in Tiflis von Iwa Pesuaschwili, übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani, bietet eine eindringliche Schilderung eines dramatischen Tages im Leben der armenischen Familie Simonyan. Das Buch, das am 9. April spielt – einem nationalen Gedenktag in Georgien – führt uns tief in das Innenleben und die Konflikte der Familie und gleichzeitig in die Realität einer postsowjetischen Gesellschaft, die mit alten und neuen Wunden ringt. Der Autor stellt die schwierige Lebenssituation der Simonyans in den Mittelpunkt und erzählt eine Geschichte über gescheiterte Träume, Rache, Ideale und die ewigen Schatten der Vergangenheit.

Die Familie Simonyan ist in den 1990er Jahren aus dem Krieg in Karabach nach Tiflis geflohen, um der Gewalt zu entkommen. In ihrer neuen Heimat jedoch, einer Stadt voller Korruption und schmutziger Politik, sind sie nie wirklich angekommen. Der Protagonist Gena kämpft an diesem Tag mit dem Gefühl, in seinem Leben völlig gescheitert zu sein. Diese Enttäuschung und sein resigniertes Verhalten prägen auch die Beziehungen zu seiner Familie. Seine Frau Mila hat ihre Hoffnungen auf eine glückliche Ehe längst aufgegeben und träumt von einem Neuanfang ohne ihn. Die Beziehung zwischen den beiden ist erkaltet, geprägt von Resignation und unerfüllten Erwartungen. Mila sieht in Gena nur noch den Schatten des Mannes, der er einmal war, und spürt die Last eines Lebens, das anders verlaufen ist, als sie es sich erträumt hatte.

Ihre Tochter Zema, die bei der Polizei arbeitet, ist getrieben von einem tiefen Rachebedürfnis. Die Erlebnisse in ihrem Leben, die Korruption und Gewalt, die sie in ihrer Arbeit täglich erlebt, haben ihren Idealismus zerstört und sie zur Überzeugung gebracht, dass Rache das einzige Mittel ist, sich in dieser Welt zu behaupten. Zema hat den Glauben an das System und an das Gute im Menschen verloren und versucht stattdessen, in einer grausamen Welt mit eigenen Regeln zu überleben.

Ihr jüngerer Bruder Lazare, ein idealistischer junger Mann, möchte Rapper werden und steht für linke Ideale ein. Er träumt davon, die Welt mit seiner Musik zu verändern und für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Doch auch Lazare wird mit den harten Realitäten konfrontiert und ist gezwungen, seine Prinzipien zu überdenken. In einer Stadt, in der Gewalt und Machtmissbrauch zum Alltag gehören, scheint für seine Ideale kaum Platz zu sein, und er muss schmerzhaft feststellen, wie schnell seine Träume zerbrechen können.

Pesuaschwili verdichtet diese Konflikte auf nur einen Tag, an dem sich die Gedanken, Ängste und Hoffnungen der vier Familienmitglieder in einem dynamischen Wechselspiel entfalten. Die Perspektiven der Figuren ändern sich stündlich, und aus ihren individuellen Gedankengängen entsteht ein komplexes Bild der postsowjetischen Realität. Der „Müllschlucker“ – ein Relikt aus der sowjetischen Zeit, das in einem „beißend stinkenden Drachenschlund“ alles Mögliche verschlingt – dient als starkes Symbol für die kommunistische Mentalität, die nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht einfach verschwindet. Er steht für eine Gesellschaft, die sich scheinbar von ihren Altlasten befreien will, es aber nicht schafft, die Vergangenheit wirklich hinter sich zu lassen.

Pesuaschwilis Roman ist damit nicht nur die packende Erzählung eines dramatischen Familientages, sondern auch eine Kritik an den Nachwirkungen des sowjetischen Erbes in der modernen Gesellschaft. Die Dämonen der Vergangenheit, die die Figuren in Form alter Erinnerungen und unverarbeiteter Traumata heimsuchen, verhindern oft, dass sie vernünftige Entscheidungen treffen. So wird der Roman zu einer eindrucksvollen Untersuchung, wie die Vergangenheit das Leben und die Identität von Menschen im heutigen Georgien prägt und beeinflusst.

Mit großer psychologischer Tiefe und eindringlichen Bildern zeigt Pesuaschwili, wie eng persönliche und gesellschaftliche Konflikte verwoben sind und wie schwer es ist, in einer Welt voller Unsicherheiten und moralischer Grauzonen einen eigenen Weg zu finden. Durch den schnellen Perspektivenwechsel entwickelt der Roman eine eigene Dynamik und bietet ein spannendes, nachdenkliches und zugleich bedrückendes Porträt einer Familie und einer Gesellschaft, die von Altlasten geprägt ist und sich in einem schwierigen Übergang befindet.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Mitteldeutscher Verlag; 1. Edition (9. September 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 144 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3963119519
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3963119514
  • Abmessungen ‏ : ‎ 21 x 13.5 x 1 cm

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*
*