Julian Nida-Rümelin
Das Ausdruck „Cancel Culture“ ist ein kontrovers diskutiertes Thema, das verschiedene Standpunkte hervorruft. Einige praktizieren das, was als Cancel Culture bezeichnet wird, und bezeichnen es zum Beispiel als „Deplatforming“. Sie weisen vehement darauf hin, dass es sich dabei nicht um Zensur handelt, da Zensur normalerweise von staatlichen Akteuren ausgeht. Andererseits sehen insbesondere politisch konservative oder rechtslibertäre Personen in der Cancel Culture eine Bedrohung für die Demokratie. Sie verteidigen die Meinungsfreiheit gegen das vermeintliche Sprachregiment des linksliberalen Mainstreams. Die Debatte betrifft auch den Gebrauch geschlechtsneutraler Sprache, da viele das moralische Überlegenheitsgefühl in Bezug auf den Sprachgebrauch als bevormundend empfinden.
In diesem Buch werden die Diskussionen und Kleinigkeiten zu diesem Thema höchstens am Rande behandelt. Stattdessen dient das Phänomen der Cancel Culture als Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Analyse. Tatsächlich ist es keine neue Praktik, unerwünschte Ansichten zum Schweigen zu bringen – dies reicht bis in die Antike zurück und prägt in vielfältigen Formen das politische und gesellschaftliche Leben in den meisten Kulturen und zu verschiedenen Zeiten. Wenn man sich gegen solche Praktiken stellt – die nicht nur als Deplatforming auftreten, sondern auch in Form von populistischer Hetze und Verfolgung Andersdenkender –, verteidigt man in Wahrheit die Demokratie als ein Konzept der Aufklärung. Doch was bedeutet dieses Konzept genau? Welche Rolle spielen Pluralität und politisches Urteilsvermögen darin? Was verbirgt sich hinter dem Begriff politisches Urteilsvermögen? Welche erkenntnistheoretischen Fragen wirft diese Analyse auf und wie lassen sich diese lösen?
Dieser Essay geht also über oberflächliche politische Auseinandersetzungen hinaus, die uns bereits seit Jahren begleiten – in den USA sogar seit Jahrzehnten – und vermutlich leider weiterhin präsent sein werden. Vielmehr handelt es sich um einen Versuch, Begriffe und Argumente zu klären. Diese Klarstellung geht weit über das Ausgangsthema der Cancel Culture hinaus, ist jedoch notwendig, um den aktuellen Bedrohungen der liberalen und sozialen Demokratie sowie ihrer kulturellen Grundlagen entgegenzutreten.
Dieser fesselnde Essay geht über oberflächliche Kontroversen hinaus und beleuchtet Cancel Culture als Teil eines tieferen Verständnisses von Demokratie und Aufklärung. Eine wertvolle Analyse, die zur Klarheit und Verteidigung fundamentaler demokratischer Prinzipien beiträgt.
- Herausgeber : Piper; 2. Edition (27. Juli 2023)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 192 Seiten
- ISBN-10 : 3492071791
- ISBN-13 : 978-3492071796
- Abmessungen : 13.2 x 2.5 x 20.8 cm