Felix Hasler
Über einen ausgedehnten Zeitraum erstreckte sich in der Domäne der Biologischen Psychiatrie eine grundlegende Überzeugung, nämlich die Vorstellung, dass psychisches Leiden unmittelbar mit einer Beeinträchtigung des Gehirns in Zusammenhang steht. Diese Leitidee übte einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausrichtung der Forschung in diesem Bereich aus. Inmitten dieser Rahmenbedingungen lenkte die aufkommende Welle der Neurowissenschaften die Aufmerksamkeit verstärkt auf genetische und molekulare Gesichtspunkte und führte dadurch zu einer Verschiebung des psychiatrischen Fokus. In diesem Prozess ging jedoch allmählich der umfassende Blick auf die gesamte Persönlichkeit des Menschen verloren, was als eine bedeutsame Veränderung betrachtet werden kann.
Trotz des Engagements kluger Wissenschaftler*innen, die sich über viele Jahrzehnte hinweg der Forschung verschrieben haben, sowie beträchtlicher finanzieller Investitionen, konnte die Biologische Psychiatrie keine relevante praktische Anwendbarkeit im klinischen Umfeld erlangen. Dieser Umstand verdeutlicht, dass die bislang verfolgte Richtung nicht die erhofften Ergebnisse erzielen konnte. Nichtsdestotrotz kristallisieren sich allmählich leise, aber bedeutsame Veränderungen ab. Die zukünftige Gestalt der Psychiatrie zeichnet sich durch eine multiprofessionelle Herangehensweise aus, welche verschiedene Fachgebiete in den Prozess einbezieht. Diese Ansatzvielfalt ermöglicht eine flexible, digital orientierte Ausrichtung und legt dabei einen starken Fokus auf praktische Anwendungen, die unmittelbaren Nutzen für die Betroffenen bringen sollen.
Die pointierte Analyse von Felix Hasler kann in gewisser Hinsicht als eine vorzeitige Abschiednahme von einer Idee betrachtet werden, die trotz ihrer Misserfolge nicht gänzlich belanglos war, sondern durchaus Nebenwirkungen hervorbrachte. Zugleich setzt er sich vehement für die Einführung einer neuen Form der Psychiatrie ein, die sich verstärkt auf pragmatisches Handeln konzentriert und dadurch eine effektivere Herangehensweise an psychische Leiden ermöglichen soll. Dieser Appell zur Veränderung ist geprägt von der Vision einer Psychiatrie, die auf einem breiteren Spektrum an Methoden basiert und die bisherigen Grenzen überschreitet, um einen wirkungsvolleren Weg im Umgang mit psychischen Herausforderungen zu ebnen.
In den insgesamt 11 Kapiteln des Buches unternimmt der Autor eine kritische Auseinandersetzung. Zunächst in einem ersten Teil, der die Kapitel 1 bis 5 umfasst, setzt er sich mit dem Verlauf eines großen Vorhabens auseinander, das oft als die „dritte Welle der biologischen Psychiatrie“ bezeichnet wird. Dabei beschreibt er den Prozess, wie dieses Projekt mit großen Erwartungen begann, aber schließlich scheiterte und große Enttäuschung auslöste.
Im zweiten Teil des Buches, der aus den Kapiteln 6 bis 11 besteht, dreht sich alles um neue Ansätze in der praktischen psychologischen Betreuung. Ein besonders hervorstechendes Thema in diesem Abschnitt ist das relativ neue Konzept der „Neopsychodelika“, das im neunten Kapitel behandelt wird. Interessanterweise war der Autor selbst zehn Jahre lang in Zürich an entsprechenden Forschungsarbeiten beteiligt.
Das erste Kapitel fungiert als eine Art Einführung, die die Stimmung für die nachfolgende Kritik setzt, indem sie von großen Hoffnungen und gleichzeitig großen Enttäuschungen spricht. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf den gescheiterten Versuch, die biologischen Ursprünge von psychischen Störungen mithilfe von Genetikforschung und Gehirnscans zu enthüllen. Trotz eines enormen Datenaufkommens konnte keine konsistente und wiederholbare Differenz in der Gehirnaktivität zwischen gesunden Menschen und Depressiven gefunden werden. Dieses Ergebnis stellt eine Enttäuschung dar, da weder die molekulare Genetikforschung noch die Untersuchung von Gehirnbildern die hohen Erwartungen erfüllen konnten, die von Psychiater Thomas Insel, dem Leiter des National Institute of Mental Health (NIMH), und vielen anderen Forschern in diesem Bereich im Jahr 2005 formuliert wurden. Die Erkenntnisse werden im dritten Kapitel anhand der Geschichte der biologischen Erklärungsversuche in der Schizophrenie-Forschung genauer beleuchtet.
Im umfangreichen vierten Kapitel des Buches wird der „Psychiatrische Neurozentrismus und seine Konsequenzen“ kritisch betrachtet. Dieser Ansatz, der besagt, dass psychische Störungen im Wesentlichen Krankheiten des Gehirns sind, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Psychiatrie festgesetzt. Es wird angenommen, dass dies eine wissenschaftliche Gewissheit ist, über die es keinen Grund mehr zur Diskussion gibt.
Der Autor bezeichnet diese Sichtweise als ein wissenschaftliches Gedankengebäude, das aus vorläufigen Annahmen, gewagten Behauptungen und unbelegten Hypothesen besteht. Insbesondere die „Serotoninhypothese der Depression“ wird herausgestellt. Diese Hypothese gilt als einer der größten und unerschütterlichsten Mythen in der Geschichte der modernen Medizin. Sie hat den langanhaltenden Erfolg von Antidepressiva, insbesondere der sogenannten SSRI-Medikamente, beeinflusst. Allerdings werden auch die unbekannten Wirkmechanismen dieser Medikamente sowie ihre unerwünschten Nebenwirkungen erwähnt.
Der Autor kritisiert auch das neueste Konzept einer „personalisierten Psychiatrie“, die auf der Vorhersage von Therapieergebnissen mithilfe von Biomarkern basiert. Es wird aufgezeigt, dass es weder spezifische biologische Marker noch passende Psychopharmaka gibt, die eine selektive Wirkung auf individuelle Formen von psychischen Störungen entfalten können. Die Idee einer personalisierten Therapie auf Grundlage von Biomarkern wird somit als unzureichend dargestellt.
Im ersten Teil des Buches mit den Kapiteln 1 bis 5 setzt sich der Autor kritisch mit dem „Aufstieg und Fall eines großen Projekts“ auseinander, das oft als die „dritte Welle der biologischen Psychiatrie“ bezeichnet wird. Dieses Projekt weckte große Hoffnungen, führte jedoch zu großen Enttäuschungen. Der Autor stellt fest, dass trotz dieser Enttäuschungen immer noch der Großteil der Forschungsgelder seit 2012 in große wissenschaftliche Projekte fließt, die sich mit umfangreichen Datensammlungen befassen. Beispiele dafür sind das Human Brain Project in Europa, das Ziel hat, das Gehirn im Computer zu simulieren, sowie die BRAIN Initiative in den USA, die auf 12 Jahre Laufzeit mit 4,5 Milliarden Dollar veranschlagt ist. Ein weiteres Projekt, das Human Connectome Project, beschäftigt sich damit, die Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn zu erforschen.
Der Autor hinterfragt jedoch die Sinnhaftigkeit dieser großen Projekte, da sie bisher wenig greifbare Ergebnisse geliefert haben. Es wird auch darüber nachgedacht, ob Psychiatrie überhaupt als medizinisches Fachgebiet betrachtet werden sollte. Eine solche Ansicht würde jedoch den Schutzstatus von Krankenversicherungen, Kündigungsschutz und Invalidenrente gefährden. Aus diesem Grund bleibt das Diagnosehandbuch für psychische Störungen, das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-5 von 2013), in einer Form erhalten, in der lediglich die Symptome beschrieben werden.
Im zweiten Teil des Buches, der in den Kapiteln 6 bis 11 behandelt wird, beschreibt der Autor verschiedene positive Entwicklungen in der psychiatrischen Versorgung. Im sechsten Kapitel wird die Telepsychiatrie und digitale Interventionen diskutiert, einschließlich der Verwendung von Gesundheits-Apps und Online-Therapien. Das siebte Kapitel befasst sich mit der Wiederbelebung der ambulant orientierten Sozialpsychiatrie, während das achte Kapitel die Einbindung der Betroffenen in den Behandlungsprozess anspricht.
Das neunte Kapitel hebt die neuerlichen Ansätze hervor, psycholytische Substanzen wie MDMA und Psilocybin in Kombination mit Psychotherapie zur Behandlung von posttraumatischen Störungen und Depressionen einzusetzen. Der Autor weist jedoch auch auf die Gefahren hin, die mit dem Boom dieser Ansätze einhergehen, einschließlich der Ausnutzung durch selbsternannte Schamanen und nicht qualifizierte Therapeuten.
Im zehnten Kapitel werden die Risiken von Antidepressiva erörtert, insbesondere die unerwünschten Nebenwirkungen und das Risiko der Abhängigkeit. Abschließend wirbt der Autor im elften Kapitel für eine pragmatische Psychiatrie, die die Realität akzeptiert, dass psychische Erkrankungen nicht immer geheilt werden können und manchmal tödlich enden. Er plädiert für eine neue Behandlungskultur, die praktische Verbesserungen für Menschen mit psychischer Belastung bietet und ihnen akzeptierte Möglichkeiten gibt, so zu sein, wie sie sind.
Die Diskussion, die von Hasler erneut aufgegriffen wird, dreht sich um die Kritik an der vorherrschenden biologischen Psychiatrie. Diese Kritik wird überzeugend präsentiert und durch ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis von 30 Seiten gut unterstützt. Es wird betont, dass trotz zunehmend aufwendiger Gehirnforschung keine praktisch relevanten Ergebnisse erzielt wurden. Gleichzeitig profitiert die Pharmaindustrie von den problematischen SSRI- und SSRI-Medikamenten, obwohl keine neuen wirksamen Medikamente entwickelt werden konnten.
Diese Situation wird wahrscheinlich bestehen bleiben, bis eine neue Generation von Psychiatern aufkommt. In Anbetracht dessen zeigt Hasler bisherige Alternativen auf, die aus der altbekannten, aber unterfinanzierten Sozialpsychiatrie stammen, aus dem modernen Internet und der berechtigten Forderung nach einer aktiven Teilhabe der Betroffenen. Diese Ansätze sind hoffnungsvoll, jedoch angesichts der Tatsache, dass im psychiatrischen Alltag nur durchschnittlich „7,6 Minuten Zeit für einen Patienten“ zur Verfügung stehen, stoßen sie an Grenzen. Dies liegt auch an der vorherrschenden „regulativen Idee“ des etablierten kategorialen nosologischen Denkens, die schwer zu überwinden ist.
Es wird angemerkt, dass eine gründlichere Analyse des Psychotherapiemarktes, der von der Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Neurose geprägt ist, sinnvoll gewesen wäre. Diese Analyse kann nicht einfach durch die Erwartung an neue Ansätze im Bereich der Neo-Psychedelika ersetzt werden, wie im neunten Kapitel angesprochen.
Felix Haslers Buch bietet eine fundierte Kritik an der biologischen Psychiatrie. Gut recherchiert und durchdacht, zeigt es hoffnungsvolle Alternativen für eine praxisorientierte Psychiatrie auf.
- Herausgeber : transcript; 1. Edition (12. Juni 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 256 Seiten
- ISBN-10 : 3837645711
- ISBN-13 : 978-3837645712
- Abmessungen : 14.8 x 1.9 x 22.4 cm