Jan Bleckwedel
In diesem Werk geht es um die Bedeutung der gemeinsamen Gestaltung von Beziehungen in der Psychotherapie, Beratung und Supervision. Diese Bedeutung kann nicht genug betont werden, wenn wir auf klinische Erfahrungen und Forschungsergebnisse achten. Bisher gab es jedoch keine klare Theorie zur Gestaltung menschlicher Beziehungen in diesem Kontext. In diesem Buch wird eine solche Theorie entwickelt, die auf einer systemischen Perspektive basiert und auf Erkenntnissen aus der Anthropologie und Entwicklungspsychologie aufbaut. Das Buch ist ein Grundlagenwerk, das Wissen aus Psychologie, Soziologie, Biologie und Philosophie zusammenführt und voraussichtlich lange relevant sein wird, nicht nur für Fachleute in Psychotherapie und Beratung.
Es ist wichtig zu beachten, dass dieses Buch keine Anleitung für die Praxis ist, sondern vielmehr ein theoretisches Werk. Es bietet jedoch viele Erkenntnisse und hat eine hohe praktische Relevanz. Es ist wissenschaftlich fundiert, gut strukturiert und in verständlicher Sprache geschrieben. Die Einführung des Buches beschreibt kurz, warum die Entwicklung einer umfassenden Sichtweise auf die gemeinsame Gestaltung von Beziehungen wichtig ist. Dabei werden verschiedene Themen angesprochen, darunter die Bedeutung von Beziehungen für Gesundheit und Entwicklung sowie Forschung zur Wirksamkeit von Psychotherapie.
Besonders interessant ist die Analyse der aktuellen Zivilisationskrise, bei der zwei unterschiedliche Denkansätze („Metalogiken“) diskutiert werden, die entweder die Entwicklungsmöglichkeiten einschränken oder ermöglichen. Das Buch hebt auch die Unterscheidung zwischen beobachtbaren Ordnungen (die wir empirisch überprüfen können) und sprachlichen Ordnungen hervor, in denen wir Phänomene sinnvoll erklären. Diese Unterscheidung ist in vielen Diskussionen, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern, von großer Bedeutung. Das Buch betont, dass wissenschaftliche Ordnungen entstehen, wenn beobachtbare Ordnungen die von uns erfundenen Erklärungen bestätigen oder widerlegen. Zusammenfassend ist das Buch also wissenschaftlich anspruchsvoll und integriert aktuelle Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissensbereichen in eine umfassende Perspektive.
Im ersten Abschnitt des Werks geht es um die grundlegenden Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen in Bezug auf die Anthropologie und die Evolution. Hier wird die Frage behandelt, was den Menschen von anderen Tieren unterscheidet und wie das menschliche Bewusstsein und die Kommunikation entstehen. Der Autor nutzt moderne Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie (Studium der Entwicklung des Menschen), die sich auf Forscher wie Michael Tomasello, Thomas Suddendorf und Yuval Noah Harari stützen. Auch Studien zum sozialen Verhalten von Säugetieren und Menschen, wie die von Stephen Porges, werden einbezogen.
Der Autor versucht, die Entwicklung des Menschen zu rekonstruieren, indem er sich auf die Art und Weise konzentriert, wie Menschen Beziehungen gestalten. Diese Herangehensweise kann als eine Art „Archäologie der Beziehungsgestaltung“ betrachtet werden, obwohl keine physischen Artefakte oder genetische Überreste vorhanden sind. Stattdessen werden klare Hinweise auf die Entwicklung des Menschen aufgezeigt, indem die individuelle Entwicklung mit der kollektiven Entwicklung in Verbindung gebracht wird.
Es wird betont, dass Menschen aktiv Beziehungen gestalten, indem sie sich gegenseitig beim Beobachten und Gestalten von Beziehungen beobachten. Sie lernen auch, Beziehungen auf kreative Weise zu gestalten. Schlussfolgernd kann gesagt werden, dass im Verlauf der Evolution Menschen immer komplexere Formen sozialen und kulturellen Miteinanders entwickelt haben. Gleichzeitig haben sich auch komplexere Formen des Selbstbewusstseins, des Bewusstseins und der Sprachfähigkeit entwickelt. In einer systemischen, entwicklungsorientierten Theorie des Zwischenmenschlichen können diese Phänomene zusammengefasst werden. Was den Menschen als Spezies auszeichnet, entsteht aus dem sozialen Zusammenleben und entwickelt sich im Rahmen gemeinsamer Beziehungsgestaltungen.
Im zweiten Teil des Textes geht es darum, eine umfassende theoretische Perspektive zu entwickeln, die sich von zwei bisherigen Herangehensweisen unterscheidet. Die erste Herangehensweise betrachtet Beziehungen hauptsächlich aus der Sicht eines einzelnen Individuums und seiner Interaktionen mit der Umgebung (A), während die zweite sich auf die Kommunikation zwischen Menschen konzentriert (B). Stattdessen will dieser Teil eine Perspektive etablieren, die sich auf die gemeinsamen Beziehungsgestaltungen mehrerer Personen in grundlegenden Beziehungssystemen fokussiert (C).
Diese Perspektive basiert auf den Ideen, die im ersten Teil des Textes ausführlich entwickelt wurden, insbesondere in Bezug auf die Evolution und die Rolle der Geschichtlichkeit, die auf Erkenntnissen aus der Neurobiologie und Psychologie beruhen.
Der Autor verknüpft beide Herangehensweisen in dieser umfassenden theoretischen Perspektive. Dabei werden bestimmte Denktraditionen der westlichen Welt hinterfragt, die seit der Renaissance entstanden sind. Diese Perspektive wird als besonders bedeutsam angesehen, da sie den einseitigen Fokus auf den Menschen, der in der Moderne zum Anthropozän geführt hat, durch eine ökologische Sichtweise überwindet. Hierbei wird auf den Denker Bateson Bezug genommen.
Im Hauptteil werden vier Dimensionen oder Aspekte der gemeinsamen Beziehungsgestaltung im praktischen Zusammenleben ausführlich und differenziert beschrieben. Dabei spielen Konzepte aus der Entwicklungspsychologie, Beziehungstheorien und Kommunikationstheorien eine wichtige Rolle. Der Abschnitt schließt mit einem Kapitel über Beziehungsgestaltungen in Triaden (Geschehnisse, die drei Personen involvieren), bei dem die Entwicklung grundlegender Beziehungssysteme und transaktionaler Muster im Fokus steht. Dies ist ein bisher wenig erforschtes Gebiet, für das der Text eine Tür öffnet. Die Idee ist, dass biologische, psychische und soziale Systeme sich epigenetisch entwickeln, basierend auf aktuellen Erkenntnissen zur Epigenetik. Hierbei geht es explizit um die Entfaltung von transaktionalen Mustern und die Epigenese von Beziehungssystemen im Kontext systemischer Wandlungsprinzipien.
Im dritten Teil des Textes dreht sich alles um die Idee, gemeinsam geteilte Entwicklungsräume zu gestalten. Hierbei stellt sich die Frage, wie diese Räume sowohl menschenwürdig als auch umgebungsfreundlich gestaltet werden können. Dies ist eine komplexe Frage, die die Zukunft der Psychotherapie und Beratung beantworten und bewältigen sollte.
In diesem Abschnitt gibt es auch einen kurzen und sehr komprimierten Teil, der die Ambivalenz der kulturellen Entwicklung beleuchtet. Dies bedeutet, dass neben den Möglichkeiten zur kreativen Gestaltung von Beziehungen auch Raum für grundlegende Skepsis vorhanden ist, was an die Ideen von Hannah Arendt anknüpft. Dies ist besonders wichtig in Zeiten, in denen existenzielle Bedrohungen durch den Menschen selbst geschaffen werden.
Das Buch endet mit einem Kapitel, das die Therapie als einen schützenswerten Entwicklungsort behandelt. Psychotherapie wird als ein besonderer Beziehungsraum betrachtet, in dem alle Beteiligten sich entwickeln können. Die Entwicklung der modernen Psychotherapie seit Freud selbst ist ein Beispiel für die Evolution produktiver Beziehungsgestaltung. Diese Entwicklung ist jedoch nicht abgeschlossen und kann weitergehen, vorausgesetzt, wir überwinden die destruktiven Kräfte in unserer Spezies.
Man hätte sich vielleicht gewünscht, dass dieser Teil etwas ausführlicher ist, aber möglicherweise gibt es in Zukunft noch Ergänzungen. Der Wert des Buches liegt in der Inspiration neuer Ideen und kann als Anstoß für die Theoriebildung in den Sozialwissenschaften dienen.
- Herausgeber : Brill | V&R; 1. Auflage (8. August 2022)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 248 Seiten
- ISBN-10 : 3525491700
- ISBN-13 : 978-3525491706
- Abmessungen : 15.3 x 1.9 x 22.8 cm