Das Buch „Babygesänge: Wie aus Weinen Sprache wird“ von Kathleen Wermke entführt uns in die faszinierende Welt der Babylaute und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Sprache. Die Autorin, eine renommierte medizinische Anthropologin, hat sich über vier Jahrzehnte hinweg intensiv mit den vorsprachlichen Lauten von Babys beschäftigt und dabei bahnbrechende Entdeckungen gemacht, die unser Verständnis der frühkindlichen Entwicklung revolutionieren.
Babys kommen bereits mit einer erstaunlichen Fähigkeit auf die Welt, Töne und Klänge zu erzeugen, die viel mehr sind als einfache Schrei- oder Weingeräusche. Diese Laute, die Wermke als „Babygesänge“ bezeichnet, sind komplexe und variantenreiche Äußerungen, die eine Art musikalische Struktur aufweisen. Schon von Geburt an spielen Babys auf eine sehr natürliche und intuitive Weise mit ihren Stimmen, indem sie Töne, Melodien und Rhythmen variieren. Diese frühen vokalen Übungen legen den Grundstein für die spätere Sprachentwicklung und unterscheiden den Menschen von anderen Tieren.
Ein zentraler Punkt in Wermkes Forschung ist die Erkenntnis, dass die Laute von Babys nicht nur zufällige Geräusche sind, sondern gezielte Ausdrucksformen, die auf die spätere Sprachfähigkeit hindeuten. Sie hat herausgefunden, dass diese Laute, obwohl sie Ähnlichkeiten mit den Gesängen von Tieren wie Delfinen, Walen oder Singvögeln aufweisen, einzigartig in ihrer Funktion sind: Sie bilden die Basis, aus der sich menschliche Sprache entwickelt. Während andere Tiere ebenfalls komplexe Lautäußerungen haben, bleibt der menschliche Gesang, der im Babyalter beginnt, der einzige, aus dem später Sprache entsteht.
Das Buch beschreibt nicht nur die grundlegenden Elemente dieser vorsprachlichen Babylaute, sondern geht auch auf die kulturellen Unterschiede ein, die Wermke in ihrer Forschung entdeckt hat. So zeigt sie auf, dass Babys aus verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich klingen. Beispielsweise unterscheiden sich die Laute japanischer Babys deutlich von denen schwedischer Babys. Dies führt zu der spannenden Erkenntnis, dass die musikalische Struktur dieser Laute bereits kulturelle Einflüsse widerspiegelt, lange bevor das eigentliche Sprechen beginnt.
Ein besonderes Highlight in Wermkes Buch ist die Beschreibung traditioneller Rituale, die mit den Babylauten in Verbindung stehen. In Japan gibt es beispielsweise einen jährlichen Brauch, bei dem Babys in einem Wettbewerb gegeneinander antreten, um zu sehen, welches Baby am lautesten schreien kann. Dieses Ritual, das zur Segnung der Babys abgehalten wird, zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie tief verwurzelt das Verständnis für die Bedeutung von Babylauten in verschiedenen Kulturen ist. Solche kulturellen Praktiken unterstreichen die zentrale Rolle, die die frühe Lautäußerung in der kindlichen Entwicklung und im gesellschaftlichen Kontext spielt.
Wermke geht in ihrem Buch auch auf die biologischen Grundlagen dieser frühen Lautentwicklung ein. Sie beschreibt, wie bereits im Mutterleib akustische Reize eine wichtige Rolle spielen und wie das Ungeborene auf eine Art „Unterwassermusik“ hört, die reich an Rhythmen, Melodien und Geräuschen ist. Diese ersten akustischen Erfahrungen prägen das spätere Lautverhalten des Babys und legen den Grundstein für die spätere Sprachentwicklung. Ab der 24. Schwangerschaftswoche nimmt der Fötus Geräusche wahr und beginnt, auf diese zu reagieren. Wermke zeigt, dass diese frühen sensorischen Erfahrungen das Gedächtnis des Fötus prägen und die spätere Lautentwicklung beeinflussen.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Buches ist die Wechselwirkung zwischen Baby und Umgebung. Wermke beschreibt, wie die Laute eines Babys die emotionale Reaktion der Umgebung beeinflussen und wie diese Reaktionen wiederum das Baby dazu ermutigen, bestimmte Laute zu wiederholen oder zu variieren. Diese Wechselwirkung zwischen dem Baby und seiner sozialen Umgebung spielt eine entscheidende Rolle in der Sprachentwicklung. Babys reagieren auf die Begeisterung ihrer Zuhörer und entwickeln durch dieses Feedback ein immer differenzierteres Repertoire an Lauten, das schließlich in die Entwicklung der ersten Wörter mündet.
Kathleen Wermke stellt in ihrem Buch die These auf, dass die Laute eines Babys eine Art „geheime Klangwelt“ darstellen, die tief in der menschlichen Evolution verwurzelt ist. Sie sieht das Weinen und Brabbeln von Babys als Schlüssel zum Verständnis der Ursprünge der menschlichen Sprache und betont, dass diese frühen Lautäußerungen universell sind und bei allen Menschen ähnliche Emotionen auslösen. Dennoch variiert die Bedeutung dieser Laute je nach kulturellem Kontext, was zu einem differenzierten Verständnis der sprachlichen Entwicklung führt.
Das Buch „Babygesänge“ ist eine faszinierende Mischung aus wissenschaftlicher Forschung und praktischen Beispielen. Es bietet nicht nur Einblicke in die komplexe Welt der Babylaute, sondern zeigt auch auf, wie diese Laute die Grundlage für die Entwicklung der menschlichen Sprache bilden. Wermke untermauert ihre Thesen mit zahlreichen Hörbeispielen, die den Leser dazu einladen, selbst in die Klangwelt der Babys einzutauchen und die Magie dieser frühen Laute zu erleben.
Zusammenfassend ist „Babygesänge: Wie aus Weinen Sprache wird“ ein bahnbrechendes Werk, das neue Perspektiven auf die Entstehung der menschlichen Sprache bietet. Kathleen Wermke gelingt es, ihre langjährige Forschung auf eine Weise darzustellen, die sowohl für Laien als auch für Fachleute zugänglich ist. Ihr Buch ist nicht nur eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern auch eine Hommage an die wunderbare Fähigkeit von Babys, mit ihren Lauten die Welt zu erobern und die Grundlagen für die Sprache zu legen, die uns Menschen so einzigartig macht.
- Herausgeber : Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG (15. März 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 224 Seiten
- ISBN-10 : 3222151229
- ISBN-13 : 978-3222151224
- Abmessungen : 14.6 x 2.2 x 22.3 cm
- 421 Gramm
- 26 Euro