
In einer Welt, in der Feuer über Wahrheit siegen soll und Unwissen mit dem Stempel der Ketzerei geahndet wird, flackert ein anderer Funke: der der Erkenntnis.
Leon Morell entführt uns mit Die Anatomie einer neuen Zeit in das Jahr 1540 – eine Zeit des Umbruchs, des Zweifels, der Suche. Und mitten darin beginnt die Geschichte einer Frau, deren Mut größer ist als die Angst vor dem Scheiterhaufen.
Verena von Pfäffikon ist eine Heilerin, eine Kräuterkundige, eine Frau, die mehr weiß, als ihr erlaubt ist. Und so soll sie brennen – als Hexe. Doch das Schicksal, dieses wilde, unzähmbare Tier, lenkt die Flammen anders. Als ihr Dorf in loderndem Chaos versinkt, nutzt sie die Chance zur Flucht. Drei Wochen wandert sie durch fremdes Land, Hunger und Kälte im Gepäck, die Sehnsucht nach Freiheit im Herzen. Sie kleidet sich wie ein Mann, nennt sich Johann, und erreicht schließlich Padua, das leuchtende Zentrum der Wissenschaft. Dort, wo neue Gedanken wachsen – oft im Verborgenen, unter dem wachsamen Blick der Kirche.
Im Schatten der steinernen Universität begegnet sie Andreas Vesal, dem berühmten Anatomen – einem Mann, der nicht nur Leichen öffnet, sondern auch die dunklen Schleier über dem Wissen zerreißt. Er erkennt sofort, dass Johann in Wahrheit Verena ist – doch statt sie zu verraten, wird sie seine Vertraute, seine Assistentin, vielleicht sogar etwas mehr.
Gemeinsam betreten sie das anatomische Theater, jenen ehrfürchtigen Ort, an dem Wissen mit Messern geschrieben wird. Als ein junger Student stirbt – nicht an Krankheit, sondern durch Gift –, sehen sich Vesal und Verena einem Rätsel gegenüber, das tiefer geht als Fleisch und Knochen. Es ist keine Jagd nach einem Mörder, sondern eine Reise in die Geheimnisse des Körpers und der Macht.
Was sie dabei entdecken, verändert nicht nur ihr eigenes Leben. Es markiert den Beginn einer neuen Zeit.
Eine Liebe zwischen Skalpell und Schicksal
Verena und Vesal sind keine typischen Helden einer Liebesgeschichte. Und doch liegt zwischen ihnen etwas, das tiefer geht als flüchtige Blicke. Es ist eine Verbindung aus Verstand, Respekt und still wachsender Zuneigung. Während sie Seite an Seite über geöffnete Körperbecken beugen, miteinander diskutieren, forschen, zweifeln und hoffen, wächst eine stille Vertrautheit. Sie begegnen sich auf Augenhöhe – was in dieser Zeit alles andere als selbstverständlich ist.
Vesal, der selbstbewusste Reformer, dessen Name einmal in die Bücher eingehen wird, erkennt in Verena nicht nur eine kluge Helferin, sondern eine Gleichgesinnte. Eine, die denkt wie er, fühlt wie er – und ihm Mut macht, weiter gegen die alten Dogmen zu kämpfen.
Verena, so stark und doch so verletzlich, findet in ihm jemanden, der sie sieht – nicht als Frau, nicht als Bedrohung, sondern als Mensch.
Und so entsteht eine zarte, stille Liebe, die sich zwischen den Seiten entfaltet wie ein Duft in einer kalten Halle – leise, aber unübersehbar.
Zwischen Geschichte und Gefühl
Leon Morell gelingt mit diesem Roman eine wundervolle Balance: Er zeigt die großen medizinischen Durchbrüche der Zeit, bringt dem Leser Andreas Vesalius und seine epochalen Werke („De humani corporis fabrica“) nahe – aber er tut es mit der Wärme eines Romanciers, der seine Figuren liebt.
Die Stadt Padua wird lebendig mit all ihrem Wissen, ihren verborgenen Intrigen, ihren Lichtern und Schatten. Historische Persönlichkeiten wie Tizian, Jan van Kalkar oder Oporinus treten auf, lassen das Geschehen noch realer wirken.
Auch wenn die Dialoge manchmal modern anmuten, so schadet es der Erzählung kaum – vielmehr bringt es Nähe und Tiefe zu den Figuren.
Einzig ein historisches Nachwort und ein Personenverzeichnis fehlen – doch was bleibt, ist ein farbenprächtiges Mosaik aus Realität und Fiktion, aus Herz und Verstand.
Fazit: Ein Roman wie ein Gemälde der Renaissance – leidenschaftlich, tiefgründig, klug.
Wer historische Romane liebt, in denen Gefühl und Geist Hand in Hand gehen, wird dieses Buch verschlingen. Es ist kein schneller Krimi, sondern ein poetischer Blick in eine Zeit des Aufbruchs – erzählt durch die Seelen zweier Menschen, die bereit sind, für Wahrheit und Menschlichkeit zu kämpfen.
Ein Denkmal für die Medizin.
Ein Lobgesang auf die Liebe.
Und ein Buch, das noch lange nachklingt.
- Herausgeber : dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 1. Edition (13. Februar 2025)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 432 Seiten
- ISBN-10 : 3423284358
- ISBN-13 : 978-3423284356
- Abmessungen : 13.8 x 4.35 x 21.5 cm
- 24 Euro