/ März 29, 2023/ Buch

Dorothee Röhrig beginnt in ihrer Autobiografie mit dem Fund eines alten Fotos ihrer Mutter, das sie zum Nachdenken anregt. Sie fragt sich, wie viel sie eigentlich über ihre Mutter weiß, die während des Zweiten Weltkriegs nur 18 Jahre alt war, als ihr Vater Hans von Dohnanyi hingerichtet wurde. Nach dem Krieg versuchte die Mutter, Christine, sich wieder in das Familienleben einzufügen, was laut der Autorin aufgrund ihrer eigenen Traumatisierung nicht immer einfach war. Dorothee Röhrig vergleicht ihre eigene Beziehung zu ihrer Mutter mit der Beziehung zwischen ihrer Mutter und Großmutter und reflektiert über die Auswirkungen von Kriegstraumata auf nachfolgende Generationen. Die Autobiografie bietet somit einen tiefen Einblick in die Familiengeschichte der von Dohnanyis und Bonhoeffers und die Herausforderungen, die durch den Krieg und dessen Folgen entstanden sind.

Jemand, der sich für die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus und dessen langanhaltenden Auswirkungen bis heute, interessiert, wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Namen Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer kennen. Es ist bekannt, dass beide kurz vor Kriegsende getötet wurden und in der Nachkriegszeit in Westdeutschland als Verräter angesehen wurden. Erst 1998 wurde ihre Ächtung aufgehoben, aber einige Menschen betrachten sie immer noch als Verräter.

Die Familien von Dohnanyi und Bonhoeffer waren gebildete, wohlhabende bürgerliche Familien, die sich stark für Humanismus und Humanität einsetzten und ihre Kinder in diesem Geiste erzogen. Das Buch bietet dem Leser einen intensiven Einblick in diese Familien, die ab 1933 nicht mehr nur Mitglieder der „besseren Gesellschaft“ waren, sondern aktive Antifaschisten und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und seine Gewalttaten. Dies geschah Jahr für Jahr immer mehr im Untergrund. Die Lektüre bietet somit einen tiefen und schmerzhaften Einblick in das Leben und Handeln dieser mutigen Familien während dieser dunklen Zeit.

Dorothee Röhrig ist die Enkelin von Hans von Dohnanyi und Christine Bonhoeffer, und ihre Mutter Barbara ist die schwierige Mutter im Titel. Die Autorin hat sich erst nach dem Tod ihrer Mutter mit der Familiengeschichte befasst, obwohl sie viele Details seit ihrer Kindheit kannte. Das Buch ist wie eine Autobiographie aufgebaut, in der Dorothee Röhrig in Kapiteln ihre Lebensgeschichte beschreibt. Geschickt verwebt sie die Familiengeschichte, insbesondere die Jahre der Naziherrschaft, mit ihrer eigenen Erzählung. Die Großmutter, die die Inhaftierung und Ermordung ihres Mannes sowie die Nachkriegsjahre als Verräterin ertrug, spielt in dem Buch eine wichtige Rolle. Im gesamten Buch finden sich emotionale und gut gewählte Zitate aus den Briefen der Großeltern, und das Literaturverzeichnis enthält zahlreiche Vorschläge für weiterführende Literatur.

Obwohl ich diese Art des Erzählens sehr schätze, habe ich gemischte Gefühle bei dieser Art des Erzählens. Die Unnahbarkeit und Arroganz der Mutter sowie ihre manchmal herzlosen, scherzhaften Bemerkungen werden immer wieder beschworen. Mit zunehmendem Alter entfernen sich die Autorin und ihre Mutter immer weiter voneinander, Immer wieder werden die Unnahbarkeit und Arroganz der Mutter sowie ihre manchmal herzlosen und sarkastischen Bemerkungen erwähnt. Je älter die Autorin wird, desto mehr entfernen sich Mutter und Tochter voneinander. Aussagen wie „Du wirst noch an mich denken“ oder „Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt“ vergiften den Alltag und lassen das Herz und die Gefühle auf Eis liegen. Fragen werden abgetan oder gar nicht erst gestellt. Es ist verständlich, dass ein Kind sich gegen die Macht der Eltern nicht durchsetzen kann, aber die Bemerkungen der Mutter über ihre Herkunft, ihre Andersartigkeit und Überlegenheit sind sehr unangenehm und können noch lange nachwirken. Trotzdem gab es in der Kindheit der Autorin auch lustige und schöne Erlebnisse, die es wert sind, erinnert zu werden. Im späteren Leben der Autorin muss die Beziehung zur Mutter jedoch eine psychologische Hölle gewesen sein. Erst nach dem Tod der Mutter führt sie ein wirklich eigenständiges und selbstbestimmtes Leben.

In dem Buch gibt es ein Zitat, in dem die Autorin beschreibt, wie sie täglich ihre Mutter anruft, um ihre Erwartungen zu erfüllen und Nähe zu schaffen, obwohl es oft nur eine lästige Pflicht ist. Dieses Verhalten wird seit 30 Jahren aufrechterhalten und geht auf eine Familientradition zurück, die ihre Mutter von ihrer eigenen Mutter übernommen hat. Im Laufe des Buches entsteht bei dem Leser das Gefühl, als ob er Tonbandaufnahmen von Therapiesitzungen hört, da die Autorin auf einen Lebenslauf verweist, den sie in Vorbereitung auf ihre Therapiesitzung geschrieben hat.

Im Laufe der Zeit offenbaren sich zunehmend die Widersprüche der Mutter und ihre Kritik an der Arbeit der Autorin wird immer offensichtlicher. Sogar ihr letztes Weihnachtsgeschenk, ein Buch über die Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie, fühlt sich wie eine Verletzung an. Trotzdem beginnt die Mutter im hohen Alter, sich ihrer Physiotherapeutin zu öffnen und erzählt Dinge, von denen die Tochter bisher nichts oder nur wenig gehört hat. Trotzdem äußert die Mutter auch kluge Gedanken wie: „Schicksal kann einsam machen. Damit muss man sich abfinden.“ Am Ende scheint sie sich damit abgefunden zu haben.

Dorothee Röhrig hat in ihrer Autobiographie tief in die Seele ihrer Mutter gegraben und sich mit deren Leben und Beziehung auseinandergesetzt. Die Autorin beschreibt die Schwierigkeiten, über die eigenen Eltern zu schreiben und betont dabei, dass ihre eigene Erfahrung mit den Folgen des Nationalsozialismus bei ihren Eltern nicht so extrem wie bei ihrer Mutter war. Die Autorin zeigt, wie schwierig es sein kann, Schuldgefühle und schlechtes Gewissen gegenüber den Eltern zu überwinden, um Seelenfrieden zu erlangen. Am Ende der Autobiographie nennt die Autorin erneut die Hauptpersonen und gibt zu, dass sie sich einen Stammbaum gewünscht hätte. Insgesamt bietet die Autobiographie einen emotionalen und tiefgründigen Einblick in die Familiengeschichte der von Dohnanyis und Bonhoeffers. Ob es tatsächlich eine Liebeserklärung an die Mutter ist, bleibt jedoch jedem Leser selbst überlassen.

  • Herausgeber ‏ : ‎ dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 3. Edition (16. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 256 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3423290447
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3423290449
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13.2 x 3 x 20.5 cm

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