/ Mai 12, 2025/ Buch

Mit Ein Leben als Drahtseilakt legt der Fotograf Siegfried Wittenburg ein außergewöhnliches Werk vor: ein Bild-Text-Band, der nicht nur fotografisch beeindruckt, sondern auch ein tiefes, bewegendes Zeugnis der jüngeren deutschen Geschichte ist. In eindrucksvoller Klarheit und mit spürbarer persönlicher Betroffenheit schildert Wittenburg sein Leben in der DDR, seine stille Rebellion gegen ein unterdrückerisches System – und seine Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand.

Der Titel ist dabei programmatisch: „Ein Leben als Drahtseilakt“ ist kein Pathos, sondern beschreibt die Realität eines Menschen, der mit scharfem Blick und fotografischem Feingefühl die DDR dokumentierte – ohne dabei zu den offiziellen Stimmen des Regimes zu gehören. Im Gegenteil: Seine Arbeit war ein stiller Protest, ein Wagnis, das ihn unter ständige Beobachtung der Staatsorgane stellte. Die spätere Einsicht in seine Stasiakte macht die Tragweite dieses Balanceakts greifbar. „Ein falscher Schritt und Sie wären abgestürzt“, wird ihm dort nüchtern mitgeteilt – ein Satz, der die ganze Atmosphäre von Bedrohung, Kontrolle und Überwachung in der DDR verdichtet.


Ein Blick durch die Linse – aber nicht durch rosarote Brillen

Wittenburgs Fotografien zeichnen sich durch radikale Ehrlichkeit aus. Anders als die inszenierten Bilder der staatlich gelenkten Propaganda zeigen sie den Alltag der Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit – zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen Gemeinschaft und Enge, zwischen Fortschrittseuphorie und Realitätsflucht. Besonders eindrucksvoll ist die Gegenüberstellung zwischen den neuen Plattenbausiedlungen am Stadtrand – den sogenannten „sozialistischen Vorzeigemodellen“ – und den bröckelnden Altbauten in den historischen Stadtzentren.

Diese Bildsprache nimmt den offiziellen Begriff des „Sozialistischen Realismus“ beim Wort – und entlarvt ihn zugleich. Denn Wittenburg zeigt den tatsächlichen Realismus: einen Alltag, der von Mangelwirtschaft, politischer Bevormundung und Einschränkungen geprägt war. Seine Kamera ist dabei nicht anklagend, sondern beobachtend, manchmal sogar zärtlich, aber immer zutiefst menschlich. Man spürt: Hier fotografiert jemand nicht aus Distanz, sondern aus dem Leben heraus.


Ein persönliches Zeugnis – die Kraft des Erlebten

Neben der visuellen Dimension überzeugt das Buch auch durch die begleitenden Texte, in denen Wittenburg seine Erinnerungen teilt. Er berichtet von einem Leben, das zwischen Freiheitshoffnung und innerer Emigration oszillierte. Dabei gelingt ihm etwas Seltenes: Er erzählt ohne Bitterkeit, aber mit großer Klarheit. Seine Worte wirken authentisch, ungekünstelt und unmittelbar – sie machen die Fotografien nicht nur verständlicher, sondern emotional greifbar.

Die persönlichen Geschichten, Begegnungen und Beobachtungen machen das Buch zu mehr als einem Dokument: Es wird zur Erinnerung an eine Zeit, die viele lieber vergessen hätten – und die doch erzählt werden muss. Wittenburg gelingt das Kunststück, sein eigenes Leben als Prisma zu nutzen, durch das wir einen ganzen historischen Abschnitt betrachten können.


Ein stiller Held des Alltags

In einer Zeit, in der der Blick auf die DDR zunehmend von Verklärung oder oberflächlicher Schwarz-Weiß-Malerei geprägt ist, bietet dieses Buch eine wohltuende Differenziertheit. Wittenburgs leiser Widerstand, seine Art des Beobachtens und Dokumentierens zeigt, wie politisch Fotografie sein kann – auch (oder gerade) ohne Parolen.

Er war kein Aktivist im klassischen Sinne, kein lauter Kämpfer. Aber genau darin liegt seine Stärke: Der stille Mut, mit dem er seine Umgebung festhielt, ist zutiefst beeindruckend. Dass er damit das Missfallen der Systemtreuen auf sich zog, verwundert nicht. Umso bedeutender ist die Reaktion vieler Zeitgenossen, die sich in seinen Bildern und Erzählungen wiederfanden – und in ihnen eine Wahrheit entdeckten, die öffentlich kaum ausgesprochen werden durfte.


Ein ästhetisch und inhaltlich überzeugendes Werk

Auch gestalterisch ist der Band ein Genuss: Die Bildauswahl ist sorgfältig kuratiert, die Kombination aus Text und Fotografie gelungen und harmonisch. Man merkt dem Buch an, dass es mit viel Herzblut und Respekt vor dem Gezeigten gestaltet wurde. Es eignet sich sowohl zum intensiven Lesen als auch zum wiederholten Durchblättern – jedes Bild lädt zum Verweilen und Nachdenken ein.


Fazit: Ein bedeutendes Zeitdokument – persönlich, künstlerisch, politisch

Ein Leben als Drahtseilakt ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur. Es ist keine reine Biografie, keine bloße Fotosammlung und kein reines Geschichtsbuch – und doch ist es all das zugleich. Siegfried Wittenburg gelingt es, mit seinen Bildern und Worten das Lebensgefühl einer ganzen Generation einzufangen. Er gibt jenen eine Stimme, die oft übersehen werden – und erinnert daran, wie kostbar Freiheit ist.

Wer sich für die deutsch-deutsche Geschichte interessiert, für Fotografie als Ausdrucksform oder für individuelle Lebensgeschichten in Systemen der Unfreiheit, wird dieses Buch nicht nur lesen, sondern spüren. Es ist eine Hommage an den Mut des Alltags, an das stille Nein und an die Kraft der Beobachtung.

Ein Buch, das bleibt – im Kopf und im Herzen.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Mitteldeutscher Verlag; 1. Edition (21. Oktober 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 480 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3963119470
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3963119477
  • Abmessungen ‏ : ‎ 26.8 x 25.2 x 4.1 cm
  • 54 Euro

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