Das Buch „Ostflimmern: Wir Wende-Millennials“ von Philipp Baumgarten und Annekathrin Kohout gibt einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt der sogenannten Wende-Millennials – der Generation, die in den 1990er Jahren in Ostdeutschland aufgewachsen ist, in einer Zeit des Umbruchs nach der Wiedervereinigung. Es ist eine Zeit, die von der Auflösung alter Strukturen, aber auch von der Überflutung mit neuen Einflüssen aus dem Westen geprägt war. Die Herausgeber vereinen in diesem Buch Fotografien und Texte, die diese besonderen Erfahrungen der Nachwendezeit lebendig und nachvollziehbar machen.
Die Fotografien von Philipp Baumgarten spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie zeigen typische Szenen aus dem Osten Deutschlands, wie etwa Plattenbausiedlungen, verwitterte Denkmäler und günstige Supermärkte. Diese Bilder dienen nicht nur als visuelle Anker, sondern auch als Ausgangspunkt für die Texte von zwölf namhaften Autorinnen und Autoren, die ihre persönlichen Erfahrungen und Eindrücke aus der Nachwendezeit in Form von Gedichten, Kurzgeschichten und Essays schildern. Diese Erzählungen bieten einen facettenreichen Blick auf das Leben dieser Generation, die hin- und hergerissen ist zwischen einer Vergangenheit, die sie nur teilweise selbst miterlebt hat, und einer Gegenwart, die oft von westlichen Normen und Werten bestimmt ist.
Die Autorinnen und Autoren, darunter Elisabeth Heyne, Lukas Rietzschel und Valerie Schönian, reflektieren in ihren Texten kritisch, aber auch verständnisvoll über ihre Kindheit und Jugend. Sie zeigen, wie die Erlebnisse in den Jahren nach der Wende sie geprägt haben – oft auf eine Weise, die erst viel später bewusst wird. Sie beschreiben die besondere Mischung aus Industriebrachen, die oft symbolisch für den Niedergang der DDR stehen, und den neuen, glitzernden Einflüssen der westlichen Konsum- und Popkultur, die von US-amerikanischen Filmen, Musikvideos und den ersten Schritten ins digitale Zeitalter dominiert wurde. Diese Kontraste, in denen sich Ost- und Westdeutschland begegnen, ziehen sich durch die Erzählungen und hinterlassen ein Gefühl der Unentschlossenheit und der Suche nach einer eigenen Identität.
Zugleich zeigen die Texte, dass diese Suche nach Identität nicht immer einfach war. Viele der Autoren beschreiben, wie sie sich oft wie Fremde im eigenen Land gefühlt haben – nicht wirklich zugehörig zum „alten Osten“, den sie nur noch aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennen, aber auch nicht ganz zuhause im „neuen Westen“, der ihnen zwar materiellen Wohlstand und Möglichkeiten bot, aber auch neue Erwartungen und Unsicherheiten mit sich brachte. In diesem Spannungsfeld zwischen Ost und West versuchen die Wende-Millennials, ihre eigene Position zu finden, oft mit dem Gefühl, dass die ostdeutsche Vergangenheit wie ein „Phantomschmerz“ in ihrem Leben weiterwirkt, obwohl sie längst in der modernen, globalisierten Welt angekommen sind.
Neben dieser kritischen Auseinandersetzung mit der Nachwendezeit schwingt in den Texten jedoch auch ein gewisser Stolz mit. Es ist der Stolz auf das, was ihre Generation aus den widrigen Umständen gemacht hat, die ihnen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung begegneten. Die Unsicherheiten und Herausforderungen, die sie damals erlebten, haben sie zu einer widerstandsfähigen und anpassungsfähigen Generation gemacht, die in der Lage ist, die Gegensätze von Ost und West in sich zu vereinen und kritisch, aber auch mit einer gewissen Nachsicht zu betrachten.
Die Vielfalt der Stimmen in diesem Buch zeigt eindrucksvoll, wie unterschiedlich die Erfahrungen dieser Zeit wahrgenommen und verarbeitet wurden. Die Geschichten, Gedichte und Essays bieten ein breites Spektrum an Perspektiven, von sehr persönlichen, fast intimen Erinnerungen bis hin zu allgemeingültigen Überlegungen über das Aufwachsen in einer Gesellschaft, die sich ständig verändert. Dabei ist „Ostflimmern“ nicht nur ein Rückblick auf die Vergangenheit, sondern auch ein Versuch, die Gegenwart zu verstehen und den Weg in die Zukunft zu finden.
Zusammengefasst zeigt das Buch auf künstlerische und literarische Weise, wie tiefgreifend die Erfahrungen der Nachwendezeit wiedergegeben werden.
„Ostflimmern: Wir Wende-Millennials“ ist ein beeindruckendes Werk, das die Erfahrungen einer einzigartigen Generation einfängt. Die Texte und Fotografien berühren und regen zum Nachdenken über Identität und Geschichte an. Absolut lesenswert!
- Herausgeber : Mitteldeutscher Verlag; 1. Edition (16. September 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 176 Seiten
- ISBN-10 : 3963119446
- ISBN-13 : 978-3963119446
- Abmessungen : 24.7 x 16.7 x 1.7 cm
- 575 Gramm
- 30 Euro