
Annett Gröschner erzählt in „Schwebende Lasten“ das Leben der fiktiven Figur Hanna Krause, einer Frau aus einfachen Verhältnissen, die fast das ganze 20. Jahrhundert miterlebt hat. Sie ist keine berühmte Heldin – aber eine starke, lebenskluge Frau, wie es sie unzählige Male gegeben hat und immer noch gibt.
Hanna war Blumenbinderin, später Kranführerin in einem Schwermaschinenbauwerk in Magdeburg. Das klingt schlicht – aber hinter diesen Berufen steckt viel mehr: harte Arbeit, Verantwortung, Lebenswillen und ein Blick auf die Welt von oben – ganz wörtlich, denn als Kranführerin beobachtet Hanna die Menschen aus zehn Metern Höhe.
Was erlebt Hanna alles?
Hanna lebt durch eine Zeit voller Umbrüche und Krisen. Sie erlebt:
- zwei Weltkriege
- zwei Diktaturen (Nationalsozialismus und DDR)
- zwei Revolutionen
- den Kaiser, Hitler, die DDR-Führung und schließlich die Demokratie
- den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland
Sie bringt sechs Kinder zur Welt, verliert zwei davon. Ihr Blumenladen schließt irgendwann, und sie wird zur Arbeiterin im industriellen Osten Deutschlands. Trotz all dieser Brüche hält sie durch. Ihr Motto: „Anständig bleiben.“
Eine Frau im Hintergrund – und doch mitten im Leben
Hanna steht exemplarisch für viele Frauen, die im Alltag alles zusammenhalten, ohne dass über sie große Geschichten geschrieben werden. Sie arbeitet, kümmert sich um ihre Familie, passt sich an – ohne sich zu verbiegen. Sie ist keine Rebellin, keine politische Kämpferin, aber sie bleibt sich und ihren Werten treu.
Gerade dadurch wird sie zu einer stillen Heldin des 20. Jahrhunderts – eine von vielen Frauen, die sonst oft übersehen werden, obwohl sie ganze Gesellschaften getragen haben.
Der Titel: „Schwebende Lasten“ – was bedeutet das?
Der Titel stammt aus dem Arbeitsschutz: So nennt man schwere Dinge, die von Kränen transportiert werden. Sie sind in der Luft, bewegen sich – können gefährlich sein. Gleichzeitig ist das ein Bild für Hannas Leben: Auch sie trägt schwer – an Verantwortung, an Verlusten, an den Anforderungen ihrer Zeit.
Aber sie trägt es – schweigend, manchmal streng, aber immer mit Würde.
Ein geheimnisvoller Auftrag und ein Blumenbild
Ein besonders schöner Moment des Romans spielt 1938, als ein fremder Mann Hannas Blumenladen betritt. Er gibt ihr einen seltsamen Auftrag: Sie soll einen Blumenstrauß nach einem alten Gemälde nachbinden – einem Stillleben von Ambrosius Bosschaert, einem holländischen Maler aus dem 17. Jahrhundert.
Das Problem: Die Blumen auf dem Bild blühen zu unterschiedlichen Jahreszeiten. Hanna nimmt die Herausforderung an – auch wenn der Auftraggeber nie zurückkehrt. Doch durch diese Aufgabe öffnet sich für sie eine neue Welt: Kunst, Schönheit, Neugier – etwas, das sie bisher nicht kannte. Dieses Bild wird zum roten Faden des Romans: Jedes Kapitel beginnt mit einer Blume aus dem Gemälde.
So wird die Geschichte erzählt
Der Roman ist sehr klar und einfach geschrieben. Die Sprache ist nicht kitschig oder übertrieben – eher nüchtern, ruhig und ehrlich. Alles wird aus Hannas Sicht geschildert, sodass man als Leser*in ganz nah bei ihr bleibt. Man erfährt nicht immer genau, was sie denkt oder fühlt – aber man spürt es zwischen den Zeilen.
Die Autorin psychologisiert nicht, sie beschreibt – und lässt uns selbst fühlen und verstehen.
Was macht diesen Roman besonders?
Ein literarisches Denkmal für eine Arbeiterin:
Hanna Krause ist eine ganz normale Frau – und doch bekommt sie hier eine große Bühne. Sie steht stellvertretend für viele andere, die in der Geschichte oft unsichtbar bleiben.
Ein Blick auf das Ende des Industriezeitalters:
Mit Hanna stirbt auch ein Teil der alten Arbeitswelt. Der Roman zeigt, wie sich der Alltag im Osten Deutschlands verändert hat – besonders nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wende.
Eine Liebeserklärung an Magdeburg:
Die Stadt wird nicht verklärt, aber mit Wärme beschrieben. Sie ist der feste Boden unter Hannas Füßen – ein Ort, der sich wandelt, aber den Menschen prägt.
Ein Roman für alle, die mehr über das Leben im 20. Jahrhundert wissen wollen:
Vor allem Menschen aus Westdeutschland können hier viel lernen – nicht über Politik, sondern über das alltägliche Leben in der DDR: Arbeit, Familie, Sorgen, kleine Freuden.
Fazit: Ein stilles Meisterwerk
„Schwebende Lasten“ ist kein Buch mit lauten Gesten. Es ist leise, genau beobachtet und tief berührend. Es erzählt von einer Frau, die ihr Leben lang kämpft, ohne sich zu beklagen. Es erinnert daran, dass Geschichte nicht nur von Königen und Generälen gemacht wird – sondern auch von denen, die einfach weitermachen.
Ein starkes, kluges, menschliches Buch – über Pflichtgefühl, Lebensmut und stille Größe.
Lesetipp: Für alle, die starke Frauenfiguren mögen und sich für das echte Leben interessieren.
- Herausgeber : C.H.Beck; 2. Edition (21. März 2025)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 282 Seiten
- ISBN-10 : 3406829732
- ISBN-13 : 978-3406829734
- Abmessungen : 14.8 x 3 x 21.6 cm
- 26 Euro