Inger-Maria Mahlke
Wenn Friedrich und Marie Lindhorst in der Kaiserzeit in Lübeck von ihren Kindern sprachen, pflegten sie, diese in die Kategorien „die Ältesten, die Mittleren und den Jüngsten“ einzuteilen. Allerdings waren es zu diesem Zeitpunkt nur sechs Kinder, und ihre beiden Töchter schienen nicht als Kinder gezählt zu werden. In dieser Ära des Kaiserreichs in Lübeck war Friedrich Lindhorst als Anwalt tätig, fungierte als Vorsitzender des Bürgerausschusses im Stadtrat von Lübeck und plante eine Kandidatur für einen Sitz im Reichstag in Berlin. Obwohl er einer von drei Brüdern war, die familiären Interessen unterlagen, basierte seine politische Karriere eher auf Quoten als auf Kompetenz und stellte für einen selbstständigen Berufstätigen wirtschaftlich betrachtet ein Verlustgeschäft dar. Die Geschichte der Stadt Lübeck wurde durch ihre Lage an zahlreichen Gewässern, die Konkurrenz mit Hamburg und die (Un-)fähigkeit ihrer Stadtväter geprägt, die Weichen für die Zukunft zu stellen.
Marie Lindhorst spielte die traditionelle Rolle bürgerlicher Frauen dieser Ära, die eheliche Pflichten erfüllen mussten, mit dem Risiko, entweder an Tuberkulose zu erkranken oder beim x-ten Kindbett zu sterben. Zwischen Sanatoriumsaufenthalten bewahrte Marie ihre bipolare Natur durch die Planung opulenter Festlichkeiten, die unter anderem der Anbahnung standesgemäßer Verbindungen dienten. Die Frage, wie lange Lindhorst einen Haushalt mit 23 Zimmern finanzieren konnte, stellte sich mehr als einmal.
Im Privatleben waren die Lindhorsts von einer Klassengesellschaft geprägt, in der sie ohne Dienstpersonal weitgehend hilflos gewesen wären und Heiraten hauptsächlich dazu dienten, geschäftliche Verbindungen zu sichern. Obwohl theoretisch sechs Söhne in der Familie aufwachsen sollten, um verschiedene Talente für kaufmännische, militärische, theologische und wissenschaftliche Karrieren hervorzubringen, schenkten die Eltern Lindhorst weniger den Talenten ihrer Kinder Aufmerksamkeit als vielmehr ihren Defiziten – talentierte Töchter waren ohnehin kein Thema.
Inger-Maria Mahlke gewährt ihren Lesern einen Blick hinter die bürgerlichen Kulissen, insbesondere durch die Figuren Dienstmädchen Ida, Leih-Diener Helms und Ratsdiener Isenhagen. Ida und der auswärtige Schüler Georg repräsentieren Menschen, die durch einen Schicksalsschlag aus ihrer sozialen Schicht gestoßen wurden, anfangs ohne Aussicht, sich aus eigener Kraft wieder zu erheben. Mahlkes Fokus liegt dabei besonders auf der Rolle der Frauen und des Dienstpersonals. Die Töchter Lindhorst kommen meiner Meinung nach zu kurz, da ihnen ihre Mutter leider wenig für das Leben mitgeben kann. Ich persönlich hätte gerne Wasserbau-Direktor Schilling bei seiner Arbeit begleitet, da die Infrastruktur einer Stadt wie Lübeck für mich interessanter erscheint als Maries Einkaufsorgien.
Fazit: Inger-Maria Mahlke gewährt in ihrem sorgfältig recherchierten und liebevoll-spöttisch erzählten Werk „Unsereins“ Einblicke in das Lübeck der Kaiserzeit. Die Zeit vergeht, während die Kinder heranwachsen. Der Roman zeichnet sich meiner Ansicht nach nicht durch einen roten Faden aus, sondern kartiert die Beziehungen zwischen Menschen, die aus ihren gewohnten Netzen geworfen werden oder sich selbst herauskämpfen. Insgesamt habe ich den Roman aufgrund seiner Detailfülle mit Begeisterung gelesen.
- Herausgeber : Rowohlt Buchverlag; 2. Edition (14. November 2023)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 496 Seiten
- ISBN-10 : 3498001817
- ISBN-13 : 978-3498001810
- Abmessungen : 13.6 x 3.93 x 21 cm