/ September 28, 2024/ Buch

Das Buch „Fabelland: Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“ von Ines Geipel ist eine eindrucksvolle und tiefgründige Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte, die sich vor allem auf die Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 konzentriert. Es bietet eine kritische Reflexion über die Ereignisse, die zur Wiedervereinigung führten, und die tiefen Spuren, die diese historische Zäsur in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hat. Dabei setzt sich Geipel intensiv mit der Frage auseinander, wie sich das Zusammenleben von Ost- und Westdeutschen nach der Wiedervereinigung entwickelt hat, woher der heutige gesellschaftliche Zorn rührt und wie man mit den anhaltenden Spannungen umgehen sollte.

Ines Geipel ist eine Zeitzeugin, die den historischen Moment des Mauerfalls persönlich miterlebt hat. Bereits im Sommer 1989 floh sie selbst aus der DDR in den Westen und studierte als junge Frau in Darmstadt, als die Mauer fiel. Ihre Erlebnisse und Reflexionen fließen in das Buch ein und verleihen ihm eine authentische, autobiografische Note. Geipel beschreibt die Aufbruchstimmung jener Zeit, die Hoffnung und das Glück, die den Mauerfall begleiteten, aber auch die Enttäuschungen und Herausforderungen, die sich im Prozess der Wiedervereinigung zeigten. Sie geht der Frage nach, wie dieser historische Moment des Glücks heute in Erinnerung bleibt, wie sich die Erzählungen über Ost und West verändert haben und warum es immer wieder zu Verleugnungen und Missverständnissen in Bezug auf den Zustand des Landes kommt.

Ein zentrales Thema des Buches ist der tief verwurzelte Zorn, der sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands zu spüren ist. Geipel hinterfragt, woher dieser Zorn kommt und welche gesellschaftlichen, politischen und historischen Ursachen ihm zugrunde liegen. Sie untersucht, wie die Wiedervereinigung und die darauffolgenden Jahre in der öffentlichen Erinnerung verarbeitet wurden und welche Erzählungen sich durchgesetzt haben. Dabei zeigt sie, dass viele Mythen und Verharmlosungen dazu beigetragen haben, die wahren Probleme zu verschleiern und das Verständnis für die jeweils andere Seite zu erschweren.

Besonders im Osten sieht Geipel das Problem, dass die Geschichte der DDR-Diktatur und der SED-Herrschaft oft nicht in ihrer ganzen Tiefe aufgearbeitet wurde. Die Erinnerung an die Diktatur werde oft überlagert von Mythen und Legenden, die die Realität verzerren. Sie spricht von einem „schmerzhaften Kontinuum der Doppeldiktatur“, das viele Menschen in der ehemaligen DDR bis heute belastet und das in den gängigen Erzählungen oft nicht ausreichend thematisiert wird. Diese „Invasion von innen“ beschreibt Geipel als eine Form der inneren Zersetzung, die tief in die Gesellschaft hineinwirkt und immer wieder zu Spannungen führt.

Gleichzeitig fordert Geipel von den Menschen im Westen, den Schmerz des Ostens anzuerkennen, ohne sich von falschen Schuldgefühlen leiten zu lassen. Sie plädiert dafür, die wirklichen Opfer der Diktatur in den Mittelpunkt der Erinnerung zu stellen und gleichzeitig die transformierten Täterstrukturen zu erkennen, die sich oft unbemerkt in der Gesellschaft fortsetzen. Die grassierende Geschichtsrevision und Relativierung, die in Teilen der Gesellschaft um sich greift, sieht sie als große Gefahr. Um dem entgegenzuwirken, fordert sie eine gründliche Auseinandersetzung mit den historischen Fakten und einen ehrlichen Blick auf die Vergangenheit.

Geipels Buch ist nicht nur eine persönliche und historische Rückschau, sondern auch ein Aufruf zur politischen und gesellschaftlichen Selbstreflexion. Sie zeigt auf, wie das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland weiterhin von Missverständnissen und Vorurteilen geprägt ist, und fordert dazu auf, diese Barrieren zu überwinden. Dabei wechselt sie bewusst die Perspektive: Anstatt die Menschen als passive Objekte der Geschichte zu betrachten, stellt sie sie als aktive, handelnde Subjekte in den Mittelpunkt. Sie macht deutlich, dass es an den Menschen selbst liegt, die Zukunft zu gestalten und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

In „Fabelland“ verknüpft Geipel auf beeindruckende Weise soziologische, historische, politische, psychoanalytische und autobiografische Perspektiven, um die Komplexität der aktuellen Lage zu erfassen. Sie analysiert die Entwicklungen der letzten 35 Jahre mit einer seltenen Klarheit und verbindet dabei persönliche Erlebnisse mit einem tiefen Verständnis für die gesellschaftlichen und politischen Prozesse, die das heutige Deutschland prägen. Das Buch ist nicht nur eine Reflexion über die Vergangenheit, sondern auch ein Appell, das historische Glück der Wiedervereinigung nicht zu verspielen und die Chancen, die sich aus dieser Zeit ergeben haben, nicht zu vernachlässigen.

Ines Geipel legt damit ein Werk vor, das in seiner Tiefe und Vielschichtigkeit einzigartig ist. Es ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt, zum Dialog auffordert und einen neuen Blick auf die deutsche Geschichte und Gesellschaft ermöglicht. Durch die Verbindung von persönlicher Erzählung und scharfer Analyse bietet es eine unverzichtbare Perspektive auf die Lage der Demokratie in Deutschland und stellt wichtige Fragen an die Gegenwart und Zukunft des Landes.

  • Herausgeber ‏ : ‎ S. FISCHER; 2. Edition (14. August 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 320 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3103975686
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3103975680
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13.5 x 2.71 x 21 cm
  • 402 Gramm
  • 26 Euro

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