/ Januar 20, 2025/ Buch

Norbert Finzsch legt mit Abjekte Körper: Zur Kulturgeschichte der Monstrositäten eine bemerkenswerte und tiefgründige Untersuchung der historischen Konstruktion und Diskriminierung sogenannter abjekter Körper vor. Das Buch verknüpft kulturgeschichtliche Analysen mit aktuellen Debatten um Geschlecht, Identität und soziale Ausgrenzung und leuchtet die Wurzeln moderner Vorurteile und Diskriminierungsmechanismen aus. Es richtet sich an Wissenschaftler*innen, Studierende und alle, die ein vertieftes Verständnis der sozialen und kulturellen Dynamiken hinter der Konstruktion von „Monstrositäten“ suchen.

Zentrale Fragestellung und Fokus des Buches

Finzsch untersucht, wie nicht-binäre, transitorische und „monströse“ Körper – definiert als Abjekte – zwischen 1500 und 2023 in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten wahrgenommen und behandelt wurden. Dabei geht es ihm nicht nur um die Charakterisierung dieser Körper als „andersartig“ oder „gefährlich“, sondern auch um die sozialen, politischen und kulturellen Mechanismen, die sie als solche definierten. Das Buch analysiert, wie die Angst vor Veränderung und Unsicherheit in diesen Gesellschaften Abjekte zu Zielscheiben von Diskriminierung machte und wie diese Ängste transhistorisch und transkulturell fortwirkten.

Ein besonderes Anliegen des Autors ist es, die Verbindungen zwischen historischen Monstrositäten und aktuellen Formen der Transphobie aufzuzeigen, wodurch das Werk eine beunruhigende Aktualität erhält.

Theoretischer Rahmen und Methodik

Der theoretische Rahmen des Buches stützt sich auf Arbeiten zu Abjektion und Monstrosität, darunter die Schriften von Julia Kristeva, Michel Foucault und Judith Butler. Finzsch greift Kristevas Konzept des Abjekten auf, das beschreibt, wie Gesellschaften das Fremde oder Unheimliche ausgrenzen, um ihre eigenen Normen zu stabilisieren. Gleichzeitig setzt er sich kritisch mit Foucaults Ideen zur Biopolitik auseinander, um zu erklären, wie abjekten Körpern die Menschlichkeit abgesprochen wurde, und mit Butlers Theorie der Performativität, um die gesellschaftliche Konstruktion von „Monstrositäten“ zu analysieren.

Methodisch arbeitet Finzsch interdisziplinär, indem er historische Texte, juristische Dokumente, literarische Werke und visuelle Darstellungen untersucht. Diese breiten Quellen erlauben es ihm, die Kulturgeschichte der Abjektion aus einer Vielzahl von Perspektiven zu beleuchten.

Hauptthesen und Inhalte

Das Buch gliedert sich in mehrere thematische Kapitel, die die Konstruktion abjekter Körper in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten analysieren:

  1. Die frühe Neuzeit und die Geburt der Monstrosität: Finzsch beginnt mit der Analyse der frühen Neuzeit, in der „monströse“ Körper – etwa siamesische Zwillinge oder Intersex-Menschen – als göttliche Warnungen oder Zeichen interpretiert wurden. In dieser Epoche wurde die Abweichung von der Norm religiös und moralisch konnotiert.
  2. Aufklärung und Wissenschaft: Während der Aufklärung wurden abjekte Körper zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Finzsch zeigt, wie die Herausbildung moderner Anatomie und Medizin das Konzept der Monstrosität pathologisierte und gleichzeitig verfestigte.
  3. Das 19. Jahrhundert: Freakshows und Eugenik: Mit dem Aufkommen der Freakshows wurden abjekte Körper zur Unterhaltung und Belehrung des bürgerlichen Publikums ausgestellt. Zugleich führten die Ideen der Eugenik dazu, dass diese Körper als „gefährlich“ für die Gesellschaft gebrandmarkt wurden.
  4. Das 20. und 21. Jahrhundert: Von der Psychoanalyse zur Transphobie: Im letzten Drittel des Buches analysiert Finzsch, wie sich die Konstruktion des Abjekten im 20. Jahrhundert weiterentwickelte, insbesondere in den Bereichen Psychoanalyse, Populärkultur und Genderdiskurse. Er zeichnet nach, wie sich die historische Abjektion von „Monstern“ in modernen Formen der Transphobie und Diskriminierung von nicht-binären Menschen fortsetzt.

Stärken des Buches

  1. Historische Tiefe und Breite: Finzsch gelingt es, mehr als 500 Jahre Geschichte in einer kohärenten und zugänglichen Erzählung zu präsentieren. Seine Vergleiche zwischen den vier untersuchten Ländern zeigen sowohl Gemeinsamkeiten als auch regionale Unterschiede in der Konstruktion von Monstrosität.
  2. Aktuelle Relevanz: Die Verbindung zwischen historischen Diskriminierungsmechanismen und modernen gesellschaftlichen Herausforderungen macht das Buch besonders relevant. Es bietet wertvolle Perspektiven für die aktuelle Debatte um Transphobie und Geschlechtergerechtigkeit.
  3. Interdisziplinarität: Die Kombination aus kulturhistorischen, literaturwissenschaftlichen und soziologischen Analysen bereichert das Buch und macht es zu einer unverzichtbaren Lektüre für Leser*innen aus unterschiedlichen Disziplinen.

Schwächen des Buches

Eine mögliche Schwäche des Buches ist seine anspruchsvolle Sprache und der dichte theoretische Rahmen, der für Leser*innen ohne Vorkenntnisse in Kulturtheorie und Gender Studies eine Herausforderung darstellen könnte. Darüber hinaus bleibt die Analyse manchmal auf der Makroebene, wodurch spezifische, individuelle Erfahrungen abjekter Personen weniger zur Geltung kommen.

Fazit

Abjekte Körper: Zur Kulturgeschichte der Monstrositäten ist ein vielschichtiges, provokantes und erkenntnisreiches Werk, das die historischen und kulturellen Wurzeln moderner Diskriminierungsmechanismen erhellt. Norbert Finzsch bietet eine präzise Analyse der Rolle von Angst, Macht und sozialen Normen bei der Konstruktion von Abjekten und zeigt, wie diese Mechanismen über Jahrhunderte hinweg fortwirkten. Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Geschlechterforschung und Kulturgeschichte, das Wissenschaftlerinnen und interessierte Leserinnen gleichermaßen begeistern wird.

Norbert Finzschs Abjekte Körper ist eine beeindruckende und tiefgründige Analyse der historischen und kulturellen Konstruktion von Monstrositäten. Mit großem Fachwissen beleuchtet er die Mechanismen hinter der Diskriminierung abjekter Körper und zeigt die transhistorischen Wurzeln moderner Transphobie auf. Der interdisziplinäre Ansatz und die Verbindung von Geschichte und aktuellen Debatten machen das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle, die sich für Gender, Kultur und Machtstrukturen interessieren.

  • Herausgeber ‏ : ‎ transcript; 1. Edition (9. November 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 712 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3837674487
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3837674484
  • Abmessungen ‏ : ‎ 16 x 5.5 x 24.2 cm
  • 1310 Gramm
  • 59 Euro

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