
Stell dir vor, du schlenderst durch eine Stadt, die du zu kennen glaubst – das vertraute Rauschen der Züge, das neonhelle Flackern der Reklametafeln, der Duft von Ramen, der aus kleinen Gassen dringt. Und doch öffnet sich plötzlich hinter einer gewöhnlichen Tür, neben einem scheinbar alltäglichen Gebäude, ein Tor zu einer anderen Welt – einer Welt, die sich im Schatten des Alltäglichen verbirgt, wie ein leiser Flüsterton inmitten der lärmenden Großstadt.
„Verborgenes Tokio“ von Pierre Mustière und Yoko Kera ist eine poetische Liebeserklärung an die unsichtbare Seele der japanischen Metropole – eine Schatzkarte zu Orten, die wie Traumfragmente wirken, verborgen in den Falten des modernen Lebens. Mit feinem Gespür und staunender Neugier enthüllen die Autoren ein Tokio, das nicht auf den Titelseiten der Reiseführer steht – ein Tokio, das sich wie ein Geheimnis nur jenen öffnet, die langsam schauen und mit dem Herzen reisen.
Hier gibt es einen Park, der nicht über Wege, sondern über einen Aufzug erreicht wird – als würde man nicht einfach die Etage wechseln, sondern zwischen Welten gleiten. Ein Canyon, mitten im urbanen Dschungel verborgen, offenbart sich wie ein aufgeschlagenes Buch aus einer anderen Zeit.
Ein Baum, von dem erzählt wird, er könne Menschen vom Rauchen befreien – man stellt sich vor, wie Suchende ihre Finger auf seine Rinde legen, in stiller Hoffnung auf Erlösung. Oder eine Statue, deren bloße Berührung Warzen vertreiben soll – ein stiller Pakt zwischen Aberglauben und innerem Wunsch.
Es sind Orte wie diese, die dem Leser das Herz öffnen, wie erste Frühlingsknospen im Ueno-Park: Eine elektronische Sonnenblume, die in der Nacht zu leuchten beginnt, als trüge sie das Lächeln eines Wesens, das aus einem Kindertraum entsprungen ist.
Oder der Park für Philosophen – wo nicht gerannt, sondern gedacht wird. Wo Zeit sich dehnt wie warmer Reis in der Sonne, und die Bäume alte Fragen flüstern.
Die Architektur Tokioter Träume ist ebenso vielfältig wie ihre Seele: Ein Stadion, in das einst Krabben wanderten, ein Bürohaus, das einen Bauernhof birgt – als wäre die Natur durch die Betonritzen zurückgekehrt, um sich ihr Recht auf Leben zu nehmen. Und Gebäude, die wie Kriegsschiffe oder Roboter wirken – als sei Tokio in Wahrheit ein schlafender Riese aus einem Science-Fiction-Märchen.
Ein Tempel in Shinjuku, so still und kraftvoll, dass man beim Betreten das Gefühl hat, die Gegenwart verliere ihren Halt. Die Zeit scheint dort zu fließen wie die verborgenen Wasserläufe, die sich unter der Stadt schlängeln – Erinnerungen, die weiterleben, selbst wenn niemand hinsieht.
Ein Gedenkstein für jene, die ihre Körper der Wissenschaft schenkten – stumme Mahnmale der Hingabe, so schlicht und doch tief bewegend.
Oder die Straße, die selbst erfahrene Taxifahrer fürchten – ein Labyrinth aus Ecken und Rätseln, das eher dem Innersten eines Traumes ähnelt als dem Logik-geordneten Raster einer Stadtkarte.
Über all dem liegt ein sanftes Leuchten, wie Morgendunst über dem Sumida-Fluss. Mustière und Kera erzählen nicht nur von Orten – sie erzählen von Sehnsucht, von Verbundenheit und vom Staunen. Sie laden uns ein, Tokio mit dem Herzen zu sehen.
Denn „Verborgenes Tokio“ ist kein Reiseführer im klassischen Sinn – es ist ein Spaziergang durch das Unsichtbare, ein Gedicht in Prosa, ein zartes Erinnern daran, dass Magie dort beginnt, wo wir aufhören, nur mit den Augen zu sehen.
Und wer sich auf diese Reise einlässt, wird nicht nur eine Stadt entdecken, sondern ein neues Gefühl für das, was Städte im Innersten ausmacht: Ihre kleinen, verborgenen Wunder.
Ein Buch wie eine Liebeserklärung – an das Schöne im Unscheinbaren, an das Wilde im Geordneten, an Tokio.
- Herausgeber : Jonglez Verlag
- Erscheinungstermin : 1. März 2025
- Auflage : 2.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 336 Seiten
- ISBN-10 : 2361958627
- ISBN-13 : 978-2361958626
- Abmessungen : 10.5 x 2.5 x 18.8 cm
- 18,95 Euro