Man kann den neuen Roman auf keinen Fall ignorieren, da er viel Aufmerksamkeit erregt. Die Reaktionen darauf sind sowohl positiv als auch negativ. Der Autor selbst drückt es so aus: „Viele Menschen sind begeistert, während andere sich bereits für die Veröffentlichung des Buches abfällige Bemerkungen einfallen lassen“ (Spiegel). Darüber hinaus enthält der Roman alle Elemente einer fesselnden Geschichte: Berühmtheiten, Sex und Verbrechen. Er thematisiert die Medien selbst und deren patriarchale Machthierarchien in großen Medienunternehmen sowie allgemein in der Gesellschaft.
In der Selbsthilfegruppe trifft der Erzähler eine Frau namens Sophia. Sophia arbeitet als Praktikantin bei einem großen Boulevard-Sender, und der Erzähler ist gut mit dem Vorstandsvorsitzenden des Senders befreundet. Die beiden verstehen sich gut und beschließen, nach den Treffen in der Gruppe gemeinsam einen Kirsch-Bananensaft zu trinken und sich auszutauschen. Bei diesen Treffen erfährt der Erzähler von anzüglichen Nachrichten, die der Chefredakteur an Sophia schickt.
Es entwickelt sich eine Affäre zwischen ihnen, die von einer stark ungleichen Machtverteilung geprägt ist. Sie treffen sich, um Sex zu haben. Die Beziehung wirkt sich positiv auf Sophias Karriere aus, da sie die Möglichkeit erhält, Prime-Time-Sendungen zu moderieren. Später wird deutlich, dass sie nicht die Einzige ist, die solche Erfahrungen beim Sender gemacht hat. Zahlreiche Frauen schließen sich zusammen, um eine Compliance-Untersuchung gegen den Chefredakteur einzuleiten.
Es ist nicht immer einfach, festzustellen, ob der Erzähler ähnlich wie Benjamin von Stuckrad-Barre ist, wie wir erfahren. Er gibt zu, dass er ständig zur Therapie gehen muss, weil er angeblich alles versteht. Obwohl er sich selbst als konfliktscheu beschreibt, spricht er ein wichtiges Thema an: den Missbrauch von Macht durch Männer in Führungspositionen. Obwohl dies wie ein Problem aus vergangenen Jahrzehnten klingt, ist es leider immer noch eine Realität, wie die Skandale um Harvey Weinstein, Roger Ailes, Woody Allen, Donald Trump und viele andere zeigen.
Die Bildung einer Meinung ist niemals unabhängig von unserem eigenen Standpunkt. Der Erzähler ist sich seiner Subjektivität bewusst und gesteht: „Ich konnte einfach diesen Boulevardhetzer nicht ausstehen und glaubte deshalb sofort alles Schlechte, das ich über ihn hörte.“ Die Kunst besteht jedoch darin, sich selbst zu reflektieren. Der Erzähler gibt an, dass er gerne verschiedene Standpunkte anhört, verschiedene Dinge liest und lieber nachdenkt, anstatt ständig seine eigene Meinung zu vertreten. Schließlich erfährt man viel mehr, wenn man nicht immer sofort mit dem bisschen, was man zufällig zusammengedacht hat, kontert. Es geht um Ambiguitätstoleranz.
Die deutsche Bewegung wurde durch den Skandal um Harvey Weinstein angestoßen. Im Roman gibt es jedoch einen Unterschied zu den beschriebenen Ereignissen: Es geht um einvernehmlichen Sex, allerdings zwischen einer Person in einer höheren Position und Untergebenen. Benjamin von Stuckrad-Barre definiert es so: In dieser Beziehung kann die Praktikantin die Beziehung nicht beenden, ohne negative Auswirkungen auf ihre Karriere zu haben. Der Mann hingegen kann einfach seine Karriere fortsetzen. Im Buch sagt Rose McGowan: „Ich wurde wenigstens vergewaltigt.“ Rose McGowan war eine der ersten Frauen, die sich im Weinstein-Skandal geäußert haben. Obwohl Weinstein verurteilt wurde, erhielt Rose McGowan dennoch keine weiteren Jobangebote. Die Liste ihrer Werke in der Wikipedia endet im Jahr 2017.
Hey, ich bin hier, um zu helfen, also bitte sei respektvoll. Ich verstehe, dass du von der lebendigen Sprache im Roman begeistert bist, und das ist in der Tat ein Markenzeichen von Stuckrad-Barre: genaues Zuhören. Er entlarvt die Phrasen seines mächtigen Freundes, der immer etwa zehn vorbereitete Zitate parat hat und reflexartig bei jedem Treffen, selbst zu zweit, eine Art Einleitung ausspricht.
Sophia, eine Teilnehmerin der Selbsthilfegruppe, spricht wahrscheinlich so, wie man es in Berliner S-Bahnen von jungen Frauen hören würde: „Also, ich war dann beim Friseur und ich war total im Drama-Queen-Modus, habe eine Freundin angerufen und – ehrlich jetzt – sogar ein bisschen geweint, und abends saß ich dann total panisch auf dem Sofa.“
Der Chefredakteur hingegen schickt abgedroschene, plumpe Formeln wie: „Ich will dich mit jeder Faser deines Körpers spüren. Du bist so klug und schön. Du bist die Eine! Wir sind seelenverwandt!“
Die selbstironischen Stellen sind besonders amüsant. Der Erzähler inszeniert sich selbst im Winter in einem Ruderboot in Berlin, wo er sein Notizbuch über die Liebe hervorholt: „Außerdem hatte ich auf dem Hinweg ein Ruderboot im Schilf gesehen,… da wollte ich jetzt ein wenig hineinsetzen und melancholisch sein.“
Als der Erzähler sich mit den betroffenen Frauen zu einer Videokonferenz trifft, beschreibt er es folgendermaßen: „Neben all den Kacheln mit den Miniatur-Bildern der Frauen befand sich ein Feld, das etwa zehnmal so groß war und komplett von meinem fetten Kopf ausgefüllt war. An diesem Tag fand ich, dass ich besonders dick aussah…“
Die Handlung wird im Bewusstseinsstrom beschrieben, ganz nah an gesprochener Sprache. Die Betonung erfolgt durch Worte in Großbuchstaben. Oder imitiert dies den lauten Stil der Schlagzeilen der Bildzeitung?
Das Thema von „Noch wach?“ dreht sich hauptsächlich um die Verbindung von Dichtung und Wahrheit. Es wird oft über Mathias Döpfner, den Chef von Springer, und den ehemaligen Chefredakteur der BILD, Julian Reichelt, spekuliert. Die Parallelen zwischen ihnen sind offensichtlich, und auch der Ich-Erzähler und der Autor des Buches könnten fast als Zwillinge betrachtet werden. Wenn es keine Nähe zur Realität gäbe, würde das Buch wahrscheinlich nicht so viel mediale Aufmerksamkeit erhalten. Der Shitstorm ist praktisch schon vorprogrammiert. Und der Autor versteht es, Aufmerksamkeit zu erregen. In diesem Fall ist die Realität sogar spannender als der Roman selbst. Der Compliance-Prozess führt letztendlich zu keinem greifbaren Ergebnis, während Julian Reichelt tatsächlich seinen Job verliert. Aber es ist gut, dass das Thema Beachtung findet. Diese Machtstrukturen existieren überall, und seit dem Lesen des Buches ist das Bewusstsein dafür geschärft. Es ist eine Win-Win-Situation für die Opfer und den Autor.
„Ein eindringlicher Roman, der Machtstrukturen entlarvt und den Blick schärft. Aktuell und mit sprachlicher Brillanz!“
- Herausgeber : Argon Verlag; 1. Auflage, Ungekürzte (19. April 2023)
- Sprache : Deutsch
- ISBN-10 : 3839820545
- ISBN-13 : 978-3839820544
- Abmessungen : 13.8 x 0.87 x 14.4 cm