/ Februar 2, 2025/ Buch

Risikomanagement im Kinderschutz: Wie Fachkräfte Entscheidungen über Kindeswohlgefährdung treffen

Wenn das Wohl eines Kindes möglicherweise gefährdet ist, stehen Fachkräfte des Jugendamts, insbesondere aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssen unter oft hohem Zeitdruck eine Entscheidung treffen: Besteht eine akute Gefahr für das Kind? Ist eine Inobhutnahme notwendig, oder reichen unterstützende Maßnahmen für die Familie aus? Diese Entscheidungen haben weitreichende Folgen, sowohl für das Kind als auch für die Eltern. Doch wie genau kommen Fachkräfte zu diesen Urteilen? Welche Methoden und Strategien nutzen sie, um einzuschätzen, ob das Kindeswohl gefährdet ist?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich Katharina Freres in ihrem Buch „Risikomanagement im Kinderschutz: Urteils- und Entscheidungsfindung bei Kindeswohlgefährdung durch Fragilitätstests“. Sie liefert eine detaillierte Untersuchung darüber, wie Fachkräfte in der Praxis arbeiten, welche Entscheidungsmechanismen sie nutzen und welche Herausforderungen dabei auftreten.

Untersuchungsgegenstand der Studie

Die Autorin setzt auf eine ethnografische Forschungsmethode, das heißt, sie beobachtet und analysiert das Verhalten und die Entscheidungsprozesse der Fachkräfte direkt in ihrem Arbeitsumfeld. Ihr Ziel ist es herauszufinden, welche Methoden tatsächlich zur Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung genutzt werden. Dabei wird eine zentrale Erkenntnis deutlich: Fachkräfte greifen weder auf standardisierte Diagnosebögen noch auf wissenschaftlich fundierte Diagnoseverfahren zurück. Stattdessen orientieren sie sich an einem individuellen Risikomanagement, das auf Erfahrungswissen und interaktiven Entscheidungsstrategien basiert.

Dies bedeutet, dass die Fachkräfte nicht nach festen Mustern oder einheitlichen Kriterien arbeiten, sondern ihre Entscheidungen flexibel und situativ treffen. Diese Vorgehensweise ermöglicht schnelle und anpassungsfähige Einschätzungen, birgt jedoch auch Risiken, da subjektive Faktoren eine große Rolle spielen können.

Wie treffen Fachkräfte ihre Entscheidungen?

Die Entscheidungsfindung im ASD basiert auf sogenannten Heuristiken – das sind einfache, oft intuitive Regeln, die helfen, in komplexen Situationen praktikable und zeitsparende Entscheidungen zu treffen. Diese Heuristiken sind unverzichtbar, da die Fachkräfte oft unter erheblichem Druck arbeiten und mit unvollständigen Informationen konfrontiert sind.

Mehrere Faktoren beeinflussen die Entscheidungsprozesse:

  • Beobachtung des Verhaltens der Eltern und des Kindes: Wie reagieren die Eltern auf Fragen? Zeigen sich Anzeichen von Vernachlässigung oder Misshandlung? Gibt es Auffälligkeiten im Verhalten des Kindes, die auf eine Gefährdung hindeuten könnten?
  • Erfahrungswissen der Fachkräfte: Welche ähnlichen Fälle haben sie bereits bearbeitet, und was haben sie daraus gelernt? Welche Muster erkennen sie?
  • Einschätzung der Kooperationsbereitschaft der Eltern: Sind die Eltern bereit, mit den Behörden zusammenzuarbeiten? Oder zeigen sie Widerstand gegen Hilfsangebote und verweigern Gespräche?
  • Austausch mit anderen Fachkräften: Oft suchen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Rat bei Kolleginnen und Kollegen, um ihre Einschätzung abzusichern und alternative Sichtweisen einzuholen.

Diese heuristischen Entscheidungsstrategien ermöglichen es den Fachkräften, in kurzer Zeit praktikable Lösungen zu finden. Doch sie können auch zu Herausforderungen und unbeabsichtigten Folgen führen.

Auswirkungen und Herausforderungen dieser Entscheidungsstrategien

Die Verwendung von Heuristiken im Risikomanagement ist effizient, kann aber auch problematische Nebenwirkungen haben. Ein zentrales Risiko besteht in der Subjektivität der Einschätzungen. Da keine einheitlichen, standardisierten Verfahren angewendet werden, kann es vorkommen, dass zwei Fachkräfte bei ähnlichen Fällen zu unterschiedlichen Urteilen kommen.

Ein weiteres Problem ist die Gefahr von Voreingenommenheit und unbewussten Vorurteilen. So kann beispielsweise der soziale Hintergrund der Eltern oder deren Verhalten im Gespräch die Einschätzung der Fachkraft beeinflussen. Eltern, die unsicher oder überfordert wirken, können schneller als risikobehaftet eingestuft werden, selbst wenn keine handfesten Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Umgekehrt könnten Eltern, die sich rhetorisch geschickt ausdrücken, unkritischer betrachtet werden, obwohl möglicherweise eine Gefährdung vorliegt.

Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche Arbeitsweise innerhalb der Jugendämter. Während einige Fachkräfte stärker auf ihre Intuition und Erfahrungswerte setzen, versuchen andere, ihre Entscheidungen durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen oder durch die Nutzung strukturierter Gesprächsleitfäden zu untermauern. Diese Uneinheitlichkeit kann dazu führen, dass Familien je nach zuständigem Sachbearbeiter unterschiedlich behandelt werden.

Fazit: Ein Balanceakt zwischen Effizienz und Genauigkeit

Das Buch von Katharina Freres gibt wertvolle Einblicke in die komplexe Arbeit des Jugendamts und beleuchtet die Entscheidungsprozesse der Fachkräfte im Kinderschutz. Es zeigt, dass es in diesem Bereich keine einfachen Antworten gibt – jede Einschätzung muss individuell getroffen und gut begründet werden.

Die Nutzung von Heuristiken ermöglicht eine schnelle und praxisnahe Entscheidungsfindung, kann aber auch zu Ungleichbehandlungen und Fehleinschätzungen führen. Eine zentrale Herausforderung bleibt daher, wie Entscheidungsprozesse im Kinderschutz transparenter, nachvollziehbarer und gerechter gestaltet werden können, ohne die notwendige Flexibilität und Handlungsschnelligkeit zu verlieren.

Das Buch regt somit nicht nur zur Reflexion über bestehende Praxisansätze an, sondern wirft auch die Frage auf, inwiefern neue Methoden und Hilfsmittel entwickelt werden können, um die Qualität der Entscheidungsfindung im Kinderschutz weiter zu verbessern. Es ist eine wertvolle Lektüre für alle, die sich mit dem Thema Kindeswohlgefährdung, sozialer Arbeit und professionellen Entscheidungsprozessen beschäftigen.

Das Werk bietet eine tiefgehende und fundierte Analyse eines äußerst relevanten Themas. Besonders beeindruckend ist die klare Struktur, die es Leser*innen ermöglicht, die komplexen Entscheidungsprozesse im Kinderschutz nachzuvollziehen. Die präzise Darstellung der Herausforderungen und Heuristiken verdeutlicht die Balance zwischen Effizienz und Genauigkeit. Insgesamt ein sehr gelungenes Buch, das nicht nur informiert, sondern auch zum Nachdenken anregt!

  • Herausgeber ‏ : ‎ Beltz Juventa; 1. Edition (13. September 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 246 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3779976145
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3779976141
  • Abmessungen ‏ : ‎ 15.1 x 1.5 x 23 cm
  • 44 Euro

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