Willkommen in der Ära der unbegrenzten Möglichkeiten! Swipe nach rechts, Pornos in HD, Vibratoren smarter als dein Thermostat – theoretisch sollte unser Sexleben doch in einem Dauerorgasmus enden. Und doch: Nichts läuft. Willkommen in der paradoxen Welt von Juliane Burghardts neuem Buch „Alles kann, nichts läuft: Warum wir immer weniger Sex haben“. Ein Titel wie ein Schulterzucken mit Diagnose. Und das völlig zurecht.
Juliane Burghardt, ihres Zeichens promovierte Psychologin und scharfsinnige Beobachterin des Schlafzimmerelends, hat mit diesem Buch ein Werk vorgelegt, das einer Mischung aus wissenschaftlicher Tiefenbohrung und pointiertem Gesellschaftsspiegel gleicht. Sie nimmt uns mit auf eine Expedition in die Abgründe unseres libidinösen Rückzugs – und das mit so viel Witz, dass man beim Lesen gelegentlich denkt: Okay, ich hab keinen Sex, aber wenigstens Spaß beim Lesen.
Denn hier wird kein Blatt vor den Laken genommen: Burghardt zitiert Studien, die belegen, was viele längst ahnen, aber keiner gern zugibt – nämlich, dass das einzige, was sich regelmäßig regt, der Daumen beim Scrollen ist. Während früher der Fernseher im Schlafzimmer die Erotikbremse war, ist es heute das Smartphone, das im Bett mehr angefasst wird als der Partner. Kurz: Der einzige Blow, den viele erleben, ist Blow-up bei TikTok.
Aber warum eigentlich? Das Buch liefert Antworten. Und zwar keine lahmen „Wir haben halt alle viel zu tun“-Ausflüchte, sondern handfeste psychologische und soziologische Analysen. Zum Beispiel: Die Selbstbestimmung der Frau hat erfreulicherweise zugenommen – aber gleichzeitig ist das Spiel der Erwartungen aus dem Ruder gelaufen. Während Frau heute ihren eigenen Orgasmus kennt (hurra!), bleibt Mann oft ratlos zurück (oops!). Es reicht nicht mehr, einfach da zu sein – es braucht Kommunikation, Empathie und idealerweise einen halbwegs funktionierenden Beckenboden.
Auch die klassische Bindungstheorie wird nicht verschont. Burghardt erklärt anschaulich, dass es zwei Systeme gibt, die unser sexuelles Verhalten steuern: das Sexualsystem („Ich bin geil!“) und das Bindungssystem („Ich will kuscheln!“). Im besten Fall arbeiten sie zusammen wie ein eingespieltes DJ-Duo auf Ibiza. Im schlimmsten Fall sabotieren sie sich wie zwei Praktikanten mit Hang zur passiven Aggression. Der eine will ran, der andere will Ruhe. Ergebnis: Netflix gewinnt.
Wer in einer Kindheit groß wurde, in der „Zuneigung“ eher ein Wort aus dem Kreuzworträtsel war, hat es später schwer mit Nähe – und folglich auch mit der Lust. Denn: Wer sich vor emotionaler Intimität fürchtet, fürchtet auch oft den Sex, der mehr ist als körperliche Gymnastik. Hier kommt Burghardts Therapieempfehlung ins Spiel: Sexuelle Störungen sind oft keine Lust-, sondern Beziehungskrisen. Und die lassen sich nicht mit dem 12. Sex-Tipp aus der Cosmopolitan lösen, sondern vielleicht mit einer Therapie – oder wenigstens einem ehrlichen Gespräch.
Doch keine Sorge, das Buch verkommt nicht zur bleischweren Beziehungsanleitung für verzweifelte Paare, die beim IKEA-Einkauf nur noch durch die SB-Halle schweigen. Es ist unterhaltsam, klug, pointiert. Burghardt gelingt es, wissenschaftliche Inhalte so charmant zu verpacken, dass selbst Begriffe wie „transgenerationale Weitergabe maladaptiver Bindungsmuster“ nicht wie ein Sedativum wirken, sondern wie ein Aha-Moment mit Zündstoff. Man nickt, man lacht, man denkt: Ja, genau DAS ist es!
Besonders stark: Der feministische Unterton, der sich durch das Buch zieht. Burghardt legt den Finger in eine Wunde, die jahrzehntelang unter dem Deckmantel der medizinischen Vernachlässigung verschwunden war – die weibliche Sexualität. Dass die Klitoris in Schulbüchern höchstens als Punkt (wenn überhaupt!) dargestellt wird, ist mehr als ein schlechter Scherz – es ist ein Indiz dafür, dass man(n) in Sachen weiblicher Lust oft im Dunkeln tappt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und was nicht gelehrt wird, wird auch nicht gewürdigt. Burghardt sagt: Schluss damit. Und das mit einer Vehemenz, die zwischen Aufklärung und Aufrütteln oszilliert.
Fazit? Dieses Buch ist Pflichtlektüre für alle, die sich fragen, warum sie keine Lust mehr auf Lust haben. Für alle, die denken, bei den anderen läuft es besser – Spoiler: tut es nicht. Und für alle, die Sex nicht nur als körperlichen Akt, sondern als seismographisches Beben des Beziehungsklimas verstehen wollen. Oder wie es in der Dating-App-Realität heißen würde: „Juliane, du hast ein Match mit der Wahrheit.“
- Herausgeber : ibidem; PBO Edition (10. Oktober 2024)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 218 Seiten
- ISBN-10 : 3838219945
- ISBN-13 : 978-3838219943
- Lesealter : Ab 12 Jahren
- Abmessungen : 14.8 x 1.3 x 21 cm
- 22 Euro