/ Januar 26, 2025/ Buch

In einer Welt, die oft von Schwarz-Weiß-Denken geprägt ist, erhebt sich „Brief in der Nacht: Gedanken über Israel und Gaza“ von Chaja Polak wie ein Lichtstrahl des Verständnisses und der Mitmenschlichkeit. Die niederländische Holocaust-Überlebende, deren Leben untrennbar mit den schmerzlichsten Kapiteln der Geschichte verbunden ist, verwebt in ihrem Essay persönliche Erinnerungen, tiefgründige Reflexionen und eine dringende Botschaft des Friedens.

Von der ersten bis zur letzten Seite zieht Polaks eindringlicher Ton die Leser*innen in einen intimen Dialog mit der Geschichte und Gegenwart. Ihre eigene Kindheit, überschattet von der Verfolgung durch die Nazis, bildet den tragischen Ausgangspunkt für ihren Blick auf die Welt. Sie erinnert sich an den Moment, als ihre Eltern, von holländischen Polizisten an die Besatzungsmacht ausgeliefert, sie zurücklassen mussten – ein zweieinhalbjähriges Kind, das in der Obhut eines „Onkels“ Zuflucht fand. Die unüberwindbare Leere dieser Trennung und der Verlust des Vaters in Auschwitz sind Narben, die Polak mit einer neuen Generation verbindet: den entwurzelten Kindern des Konflikts zwischen Israel und Gaza, die ihre Eltern in den endlosen Kreisläufen der Gewalt verlieren.

Doch Polaks Essay ist mehr als eine persönliche Nacherzählung von Trauer und Verlust. Es ist eine universelle Mahnung, die den Finger in die Wunde legt und sich nicht scheut, unbequeme Fragen zu stellen. Mit unerschütterlicher Klarheit spricht sie von der Spirale der Gewalt, die den Nahen Osten umschließt, und benennt die Schuldigen: die fanatische Hamas, die eigene Bevölkerung unterdrückt; Israel, das als Besatzungsmacht Freiheiten verweigert; und die internationale Gemeinschaft, deren Gleichgültigkeit und Untätigkeit diese Eskalation erst möglich machen.

Polaks humanistischer Ansatz verweigert es jedoch, sich in simplen Anklagen zu verlieren. Vielmehr ist ihr Anliegen, die Wurzeln des Hasses zu verstehen, und sie fragt: Wie lässt sich eine Spirale durchbrechen, die von Generation zu Generation weitergetragen wird? Der Schlüssel liegt für sie in einer Haltung, die sie von ihrer Mutter lernte: Menschlichkeit vor allem. Polak plädiert dafür, über religiöse, ethnische oder nationale Grenzen hinwegzusehen und das Menschsein als die Essenz unseres Zusammenlebens zu begreifen. Kein Mensch sollte wegen seiner Herkunft, seines Glaubens oder seiner Staatszugehörigkeit leiden müssen – eine Lektion, die von erschütternder Einfachheit und zugleich universeller Wahrheit ist.

Mit einem ergreifenden Gleichgewicht aus Schmerz und Hoffnung lenkt Polak den Blick auf die Opfer beider Seiten. Sie erzählt von progressiven Friedensaktivist*innen, die im Oktober 2023 von der Hamas ermordet wurden, und sie beschreibt die Verzweiflung der palästinensischen Zivilbevölkerung, die unter der Gewalt und den Entbehrungen in Gaza leidet. Ihre Worte erinnern uns daran, dass Trauer keine Grenzen kennt und dass wahre Lösungen nur jenseits von Gewalt liegen können.

Polaks Essay geht jedoch über reine Reflexion hinaus: Es ist ein Aufruf zum Handeln. Sie fordert eine Welt, die sich nicht in Fatalismus verliert, sondern aktiv nach Verständigung strebt. Großmächte müssten Verantwortung übernehmen, doch auch die Stimmen von Schriftstellerinnen, Aktivistinnen und Lehrer*innen seien entscheidend. Besonders beeindruckend ist ihre Beschreibung eines Projekts zweier Journalisten – einer jüdisch, einer palästinensisch –, die mit Geschichten über Alltagssorgen und Sehnsüchte die Gemeinsamkeiten beider Völker hervorheben. „Ein Lichtspalt, geschaffen aus Wörtern und Sätzen“, nennt Polak dieses Projekt und zeigt damit, wie Sprache als Werkzeug des Friedens genutzt werden kann.

In den dunklen Kapiteln des Essays blitzen immer wieder Funken der Hoffnung auf. Sie glaubt daran, dass Dialog, Bildung und Empathie Brücken bauen können, wo Hass Mauern errichtet hat. Für Polak bedeutet Frieden mehr als das Schweigen der Waffen – er verlangt nach einer tiefen Veränderung in den Herzen der Menschen. Sie ruft dazu auf, die Menschlichkeit zu feiern, die inmitten von Leid und Ungerechtigkeit immer wieder aufblitzt, und träumt von einer Zukunft, in der diese Menschlichkeit die Grundlage für ein neues Miteinander bildet.

„Brief in der Nacht: Gedanken über Israel und Gaza“ ist mehr als ein Essay; es ist ein Plädoyer für das Menschsein. Polaks bewegende Worte sind nicht nur ein Zeugnis ihrer eigenen Geschichte, sondern auch ein eindringlicher Appell an uns alle, über Grenzen hinwegzusehen und die Menschlichkeit an erste Stelle zu setzen. Leser*innen, die dieses Buch aufschlagen, werden nicht nur eine tiefere Einsicht in den Nahostkonflikt gewinnen, sondern auch dazu inspiriert, selbst zum Licht in einer oft dunklen Welt zu werden.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Droemer HC; 1. Edition (2. September 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 128 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3426562189
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3426562185
  • Originaltitel ‏ : ‎ Brief in de Nacht
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13 x 1.38 x 20.8 cm
  • 18 Euro

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