/ Mai 1, 2023/ Romane

In „Das Café ohne Namen“ kehrt Robert Seethaler in seine Geburtsstadt Wien zurück, wo bereits sein erfolgreicher Roman „Der Trafikant“ spielt. Das titelgebende Café befindet sich im Viertel rund um den Karmelitermarkt, einem der ärmsten und schmutzigsten Viertel Wiens. Im Spätsommer 1966 entdeckt Robert Simon ein heruntergekommenes Lokal, das zur Pacht angeboten wird. Nach sieben Jahren Gelegenheitsarbeit auf dem Markt will er den Mut aufbringen, etwas Eigenes aufzubauen. Obwohl er kein Fachmann ist, packt er gerne an und hat noch nie vor Herausforderungen zurückgeschreckt.

Sein Leben war bisher nicht leicht. Sein Vater kehrt nicht aus dem Krieg zurück und seine Mutter stirbt drei Monate nach der Nachricht vom Heldentod an einer Blutvergiftung. Er kommt zu den Barmherzigen Schwestern in ein Haus für Kriegswaisen. Mit fünfzehn Jahren verlässt er die Schule, nur mit den grundlegenden Kenntnissen ausgestattet. Das und seine freundliche und entschlossene Art müssen ausreichen für sein Vorhaben.

Nach Wochen harter Arbeit ist es endlich soweit. Simon eröffnet sein Café am Markt. Die Speisekarte ist nicht umfangreich: Es gibt Kaffee, Limonade, Soda und Bier zum Trinken, sowie Rot- und Weißwein; zum Essen gibt es Schmalzbrot mit oder ohne Zwiebeln, Gurken und Salzstangen. Die Gäste lassen nicht lange auf sich warten. Im Laufe der Zeit entwickelt sich eine treue Stammkundschaft aus Markthändlern, Schichtarbeitern, Fabrikarbeiterinnen und kleinen Angestellten. Bald benötigt Simon Unterstützung. Glücklicherweise bricht vor dem Café eine arbeitslose Näherin namens Mila vor Hunger ohnmächtig zusammen. Mit ihr hat Simon eine fleißige und zuverlässige Mitarbeiterin gefunden. Auch nach ihrer Hochzeit mit einem Stammgast bleibt Mila an seiner Seite.

Es sind Jahre voller harter Arbeit für Simon, viele Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche, immer mit der Sorge um das wirtschaftliche Überleben. Doch Simon liebt seine Arbeit und seine Gäste. Er freut sich über die Menschen, die sich täglich in seinem Café versammeln und fühlt sich wie ein Anker für verlorene Seelen.

Die Stammgäste werden von Robert Seethaler meisterhaft porträtiert. Mit nur wenigen Sätzen und Szenen werden die Figuren lebendig und unverwechselbar. Da ist zum Beispiel Simons langjähriger Freund, der Fleischermeister Johannes Berg, der sich liebevoll um seinen alten Vater kümmert und sich Sorgen um den Unterhalt seiner wachsenden Familie macht. Oder die üppige Käsehändlerin Heide Bartholome, die eine komplizierte Beziehung mit dem untreuen Maler Mischa hat. Auch Milas Ehe mit dem Ringer Renee vom Heumarkt hat Höhen und Tiefen.

Zwischendurch belauscht man zwei ältere Frauen an ihrem Stammplatz im Café, die den neuesten Klatsch und Tratsch austauschen und Weisheiten aus ihrem Leben teilen. Die Hauptfigur Robert Simon berührt besonders. Er ist genügsam und erfreut sich an den kleinen Dingen im Leben. Allerdings bleibt ihm das Glück in der Liebe verwehrt. Seine Beziehung zu der jungen Jascha aus Jugoslawien ist kurz und unklar. Eine konstante Beziehung hat er jedoch zu seiner Zimmerwirtin, einer Kriegerwitwe, die ihn unterstützt und ermutigt. Als sie alt und verwirrt wird, besucht Simon sie regelmäßig im Pflegeheim.

Simon ist ein Pragmatiker, der Rückschläge stoisch hinnimmt. Als ihm nach zehn Jahren der Pachtvertrag gekündigt wird, feiert er noch ein großes Fest mit seinen Stammgästen und schließt das Café.

In seinem Roman breitet Robert Seethaler alltägliche, oft unspektakuläre Schicksale aus, Porträts von den sogenannten „kleinen Leuten“. Die Weltgeschichte und das Zeitgeschehen werden nur im Hintergrund angedeutet. Es wird erwähnt, dass ein ehemaliger Nazi sein Hakenkreuz in ein Jesuskreuz umgebogen hat. Für einen anderen erscheint der Einsturz der Reichsbrücke 1976 als Zeichen für den Untergang des alten Österreichs. Der Wiederaufbau des kriegszerstörten Wien wird nur anhand einzelner Details angedeutet.

Dem Autor geht es weniger um ein Gesellschaftsporträt, sondern um eine Haltung zum Leben. Es geht um das Scheitern und das Weitermachen, darum, seinen Platz im Leben zu finden und anderen mit Liebe und Güte zu begegnen.

Der Autor zeichnet ein Bild von den sogenannten „kleinen Leuten“ – den Menschen, die im Hintergrund der großen Ereignisse stehen. Dabei gelingt es ihm, die Weltgeschichte und das Zeitgeschehen nur subtil anzudeuten, wodurch der Fokus auf den individuellen Schicksalen liegt. Es sind die alltäglichen Geschichten, die uns berühren und zum Nachdenken anregen.

Besonders beeindruckend ist Seethalers Fähigkeit, mit einfachen Worten und kurzen Dialogen tiefe Emotionen zu vermitteln. Man spürt die Freude, die Trauer, die Hoffnung und die Sehnsucht der Charaktere. Der Roman regt zum Nachdenken über das Leben, das Scheitern und das Finden des eigenen Platzes in der Welt an.

Trotz der melancholischen Grundstimmung ist „Das Café ohne Namen“ ein Buch voller Optimismus. Es zeigt uns, dass das Leben auch in schwierigen Zeiten lebenswert ist und dass es sich lohnt, anderen mit Liebe und Güte zu begegnen. Die Botschaft, seine Träume zu verfolgen und niemals aufzugeben, wird auf beeindruckende Weise vermittelt.

Insgesamt ist „Das Café ohne Namen“ ein Buch, das mich tief berührt hat. Robert Seethaler ist ein meisterhafter Erzähler, der es versteht, uns in seine Geschichten hineinzuziehen und uns die Vielschichtigkeit des Lebens vor Augen zu führen. Ich kann dieses Buch jedem empfehlen, der auf der Suche nach einer bewegenden und inspirierenden Lektüre ist.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Claassen; 2. Edition (26. April 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 288 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3546100328
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3546100328
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.8 x 2.8 x 21 cm

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