/ November 27, 2023/ Ratgeber, Rehabilitation

Sabine Seichter


Die Struktur des Buches besteht aus vier Abschnitten von variabler Länge, ohne numerische Kennzeichnung. Diese anfänglich ungewohnte Herangehensweise verzichtet auf eine explizite Einleitung. Stattdessen entschädigt die Autorin die Leserschaft großzügig mit einer ausführlichen Literaturliste, einschließlich Internetquellen.

Die sogenannte „Einleitung“ trägt den Titel „Die Ware Kind“ und startet kraftvoll mit der provokanten These, dass „… das Kind im Laufe der Geschichte der Kindheit zur Ware geworden ist…“ (Seite 7). Hier legt die Autorin offen, dass ihr Fokus auf der kritischen Betrachtung dieser Entwicklung liegt. Das Buch widmet sich der tiefgreifenden Analyse historischer Dimensionen, die die These untermauern. Dabei werden diverse Blickwinkel auf das „konstruierte“ Kind sowie dessen vielfältige Funktionen beleuchtet. Gleichzeitig werden kritische pädagogische Ansichten und Vorgehensweisen in den Fokus gerückt. Das umfassende vierte Kapitel illustriert die Argumentation der Autorin anhand mehrerer anschaulicher Beispiele.

Im Abschnitt „Die Produktion des Kindes“ konstatiert die Autorin, dass das Interesse am Kind in den letzten Jahrhunderten stark zugenommen hat, es wurde förmlich „entdeckt“. Seit dem späten 18. Jahrhundert dient das Kind als Hoffnungsträger für das „Neue“. Gleichzeitig entstand die Disziplin der Erziehungswissenschaft, die sich mit Eingriffsstrategien in die „kindliche Werden“ befasst. Erziehung und kindliche Entwicklung unterliegen zunehmend kulturell geprägten und standardisierten Vorgehensweisen. Neue Berufe wie Sozialarbeiter, Erzieher und Psychologen etablieren sich, fokussiert auf die Formung des „normalen“ Kindes. Die Autorin betont die Bedeutung von Bildern, wie im Beispiel des Struwwelpeters, in der Festhaltung der Geschichte von Kindheit und Erziehung. Seichter zieht Parallelen zur Domestizierung von Haustieren und vergleicht Rousseau mit einem Hunde-Trainer. Die Kontrolle und Steuerung des Embryos durch moderne Technologien verändert grundlegend den Blick auf das pränatale Kind, indem natürliche Prozesse technologischer Beherrschbarkeit weichen.

Im Abschnitt „Verwissenschaftlichung des Kindes“ wird das systematische Überwachen und Beeinflussen der kindlichen Entwicklung im Kontext des Zivilisationsprozesses betrachtet. Die Autorin legt besonderen Wert darauf zu betonen, dass sie sich ausschließlich mit den Konzepten von Kind und Kindheit in der westlichen Welt auseinandersetzt.

Als grundlegendes Prinzip eines gezielt gesteuerten „Modellierungsprozesses“ identifiziert Seichter die „Überwindung des Animalischen“. Sie stützt diese These mit verschiedenen historischen Beispielen. Seit dem 15. Jahrhundert wurde der zivilisierte Mensch als Zielnorm erklärt, wobei korrektes und angepasstes Verhalten, frei von triebgesteuerten Einflüssen, als Antrieb für gesellschaftlichen und individuellen Fortschritt betrachtet wurde. Dies führte zur Entstehung von Wissenschaften, die Rahmenbedingungen für eine optimale Modellierung erforschen sollten, um das „wilde Kind“ zu zähmen.

Parallel zur Verwissenschaftlichung der Humanmedizin wird das moderne Kind zum „vermessenen Kind“ eines Forschungsverbundes aus Medizin, Psychologie und Pädagogik. Wissenschaftlich erforschte Entwicklungsprinzipien werden zu Normen, die eine Unterscheidung zwischen „Normalität“ und „Anormalität“ ermöglichen. Normalität wird zum Idealziel einer erfolgreichen Heranwachsens und zum Leitbild von Erziehung und Pädagogik erklärt.

Für diese Ziele waren speziell gestaltete „Räume“ notwendig, in denen soziales Leben erforscht, kontrolliert und gesellschaftlich gelenkt werden kann. Die Autorin verweist auf mittelalterliche Klöster, psychiatrische Einrichtungen bis hin zu heutigen Schulen und Kitas. Hierbei folgt sie Foucault, der diese Institutionen als Rahmen für Überwachung und Disziplinierung beschrieben hat. Das Ziel aller Maßnahmen besteht darin, äußere Zwänge in individuelle Selbstverpflichtungen zu transformieren. Seichter bezieht sich auch auf Elias, der feststellt, dass diese Institutionen Ordnung, Regeln und Rhythmen vermitteln, die von der Gesellschaft für das Verhalten eines normalen Bürgers erwartet werden.

Im umfangreichsten Kapitel des Buches zeigt Seichter auf, wie sich der Prozess der Formierung und Modellierung in der westlichen Welt durch die expandierende Kindheitsforschung und den zivilisatorischen Fortschritt manifestiert. In 15 detaillierten Unterkapiteln illustriert sie diesen Prozess anhand verschiedener Beispiele, angefangen beim „fehlerhaften Kind“ über das „nützliche“ oder „gestillte“ bis hin zum „ökonomisierten Kind“.

Im Abschnitt über das „fehlerhafte Kind“ beschreibt sie, wie seit dem 18. Jahrhundert Medizin und Pädagogik das Kindsein untersuchen, mit dem Ziel, Fehlerhaftes als „krank“ oder „nicht normal“ zu deklarieren. „Krank“ wird vermehrt mit „nicht normal“ gleichgesetzt, was zur Gründung zahlreicher Institutionen zur Erforschung, Kontrolle und Steuerung führt.

Beim „neuen“ Kind kritisiert Seichter scharf die Pädagogik von Maria Montessori, da hier die Idee der Schaffung eines „neuen Kindes“ für eine bessere Gesellschaft besonders deutlich wird. Die Vorstellung der Herstellbarkeit, Machbarkeitsfantasien und die Forderung nach Disziplin und absolutem Gehorsam bilden nach Seichter die Grundlagen der „schwarzen Pädagogik“.

Im „verräumlichten Kind“ zeigt die Autorin den historischen Blick auf die Entstehung pädagogisierter Räume wie Klassenzimmer, Spielplätze und Internats-Schlafsäle, die sicherstellen, dass Kinder permanente „Beobachtungsobjekte“ werden. Die bewusste Gestaltung dieser Räume erkennt Seichter als mächtige Möglichkeit der Pädagogik, auf die beobachteten Kinder erziehend und formend einzuwirken.

Im letzten, sehr lesenswerten Unter-Kapitel über das „ökonomisierte Kind“ greift die Autorin die Idee auf, dass Erziehung heute im Namen ökonomischer Brauchbarkeit geschieht. Sie erklärt, wie ökonomisierte Erziehungsabsichten subtiler werden, z.B. Kinder als Projekte zu betrachten, in die investiert wird, mit dem Ziel, sie zu „Homo Ökonomicus“ oder „global player“ zu formen. Diese Entwicklung zeigt sich auch in der frühkindlichen Erziehung durch die Akademisierung der entsprechenden Berufe und den Ausbau von spezifischen Bildungszielen in Kitas. Kindheit wird immer weniger als Schonraum betrachtet, stattdessen erfolgt Standardisierung und Beschleunigung anstelle von Individualisierung und Entschleunigung.

Das Buch kulminiert im beeindruckenden Schlusskapitel „designte Kind“, in dem die Autorin ihre Perspektive auf die gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft im Umgang mit Kindern darlegt. Provokant stellt Seichter fest, dass Embryo und Schwangerschaft bereits als Produkte betrachtet werden, angefangen ab der Zeugung, und verweist auf pränatal-diagnostische und gentechnische Optionen. Das „Designerbaby als das perfekte Superkind“ wird durch genetische Modifikation, Leihmutterschaft und künstliche Gebärmütter optimiert. Dies wird in Zukunft das normale Baby sein, zumindest für diejenigen, die es sich finanziell leisten können. Es erfordert weniger Selektion oder Modellierung, da das perfekte Kind bereits geboren wird. Die herkömmliche Pädagogik wird dann nur für wenige natürlich gezeugte und unveränderte Kinder zuständig sein und letztendlich sich selbst obsolet machen. Norm werden dann technisch hergestellte, gesunde und schöne Kinder sein, während alle anderen als krank oder weniger normal gelten. Seichter wirft herausfordernd die Frage auf, ob diese „unnormalen“ Kinder sich sozial rechtfertigen können und welche Rolle die Pädagogik in dieser Zukunft überhaupt noch spielen wird. Mit diesen beunruhigenden Zukunftsszenarien endet das Buch, und die Leserschaft bleibt verstört und ohne Trost oder Hoffnung zurück.

Dieses erziehungswissenschaftliche Buch ist unkonventionell und provokant in Form und Inhalt. Die Autorin kümmert sich wenig um übliche Strukturen, Zitate sind nicht immer sorgfältig, und die Überschriften sind auffällig. Der Schreibstil erfordert viel Vorwissen und wiederholt sich hartnäckig.

Seichter kritisiert die Pädagogik schonungslos und deckt dunkle Seiten auf, die hinter den schönen Fassaden pädagogischer Praktiken verborgen sind. Das Buch ist erschreckend und geht unter die Haut, verwendet manchmal drastische Vergleiche und markante Sprache. Die Autorin scheut keine Tabubrüche, insbesondere ihre These, dass das Kind immer mehr zu einer Ware wurde und die Erziehung einen erheblichen Beitrag dazu leistete, ist provokant.

Im Schlusskapitel entwickelt die Autorin eine beängstigende Zukunftsvision von technisch optimierten Kindern, die kaum noch pädagogische Unterstützung brauchen.

Für alle, die sich mit Kindern beschäftigen, ist es lohnenswert, sich mit den dunklen Seiten ihres Handelns auseinanderzusetzen. Das Buch ist wild und anspruchsvoll, daher möglicherweise nicht für jeden Leser geeignet. Diejenigen, die es durchhalten, werden mit kritischen Gedanken, interessanten Quellen und inspirierenden Blickwinkeln belohnt. Das Buch bietet provokante Thesen und kritische Perspektiven auf die Kulturgeschichte der Kindheit und erzieherisches Handeln. Es ist besonders für Leser mit fachlichem Hintergrund geeignet.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Beltz; 2. Edition (19. Juli 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 189 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3407259328
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3407259325
  • Abmessungen ‏ : ‎ 17.1 x 1.58 x 24.5 cm

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