Der Zeitpunkt um einen Romans zu dem Theme zu publizieren könnte nicht unglücklicher und gleichzeitig passender sein. Unglücklich, weil er einmal mehr zeigt, dass sich die Geschichte in groben Mustern wiederholt; und passend, weil man, acht Jahrzehnte zurück zum Holodomor gehen muss, um zu verstehen, was für die Ukraine in ihrem aktuellen Krieg mit Russland auf dem Spiel steht.
In dieser Geschichte wird von Katja Schewtschenko, einem ukrainischen Bauernmädchen voller Lebensfreude und Zukunftsträume, deren Träume zerschlagen werden, als Stalin beschließt, das gesamte Ackerland des Landes gewaltsam zu kollektivieren und alle, die sich dem widersetzen, zu verhaften, zu deportieren, hinzurichten und böswillig auszuhungern berichtet. Die Familie von Katjas hat einen bescheidenen, aber wohlhabenden Bauernhof, der so viel produziert, dass sie ohne größere Sorgen davon leben könnten. Allerdings klappt es nicht wegen einer missbräuchliche Getreidequoten, extrem hohen Steuern, der Verhaftung ihres Vaters und anderer Familienmitglieder. Ausserdem trägt die Ermordung von Freunden und Nachbarn und schließlich die Kollektivierung des Hofes langsam dazu bei, das ihre Existenz bedroht wird. Katya, ihre Mutter, ihre Schwester, ihr Mann und ihr Schwager können nur überleben, indem sie alles essen, was sie finden oder fangen können, sogar Ratten, Würmer und Krähen. Die Familie leidet jahrelang schrecklich. Zum Schluss ist nur noch Katya und ihr Mann übrig – den beiden ist es irgendwie gelungen zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zu entkommen. Schließlich schaffen sie es Amerika zu erreichen. Dort angekommen, erzählt sie in ihren letzten Lebensmonaten ihrer Enkelin ihre Geschichte, damit sie nicht der Zeit zum Opfer fällt.
Ich persönlich mag es nicht, wenn in zwei Zeitebenen erzählt wird; eine Zeitebene zieht immer die andere herunter, und darunter leidet in der Regel die Geschichte, die in der Vergangenheit spielt. Das ist hier nicht anders: Wenn man nur die Kapitel mit Katjas Sichtweise in der Ukraine liest, ist die Geschichte großartig, rührend erzählt und sehr erschütternd, weil das Leid unermesslich und unerträglich ist. Aber die parallele Gegenwartsgeschichte von Cassie, ihrer Enkelin, ist eine Qual. Cassie ist als Figur uninteressant und manchmal ziemlich dumm; sie rechnet nie zwei und zwei zusammen, dass der Holodomor wahrscheinlich das war, was ihre Großmutter erlebt hat und worüber sie nicht reden will, und noch unglaublicher ist, (view spoiler) dass sie das komplette Gegenteil von Katya ist, und obwohl ich verstehe, dass sie trauert, kann ihr Mitleid auf die Nerven gehen, besonders im Vergleich zu Katyas Erfahrungen, die viel schlimmer sind, aber ohne Selbstmitleid. Sie ist eine Nervensäge.
Idealerweise hätte es nur die Holodomor-Geschichte geben sollen, denn das ist es, was das Buch verkaufen wird und wofür der Titel wirbt. Wenn Sie die Übung machen, nur Katyas Sichtweisen zu lesen und Cassies auszulassen, werden Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Aber auch der Holodomor-Handlungsstrang hätte davon profitiert, mehr ausgearbeitet zu werden, denn er ist, ehrlich gesagt, zu kurz geraten. Die meiste Zeit liest es sich so, als wäre die ganze Ukraine der Bauernhof der Schewtschenkos, und viele Kapitel spielen sich in den vier Wänden des Hauses von Katya und Kolya ab. Man bekommt nie ein Gefühl für Zeit und Ort und solche Ereignisse. Es gibt einen Bauernaufstand, an dem eine der Hauptfiguren teilnimmt, aber wir sehen oder hören nie etwas davon. Von der Kolchose sehen wir nicht viel, wenn überhaupt etwas, und noch weniger von den Dingen in der Umgebung der Oblast. Es gibt keine Personen außerhalb von Katjas Umfeld, und sie alle kommen und gehen, wie es die Handlung erfordert, wie Statisten in einem Film. Wir sehen auch nicht wirklich, wie sich die von Menschen verursachte Hungersnot entfaltet, es wird uns alles erzählt, manchmal in Form von Informationen; einige Passagen lesen sich, als wären sie direkt aus Applebaums Buch entnommen, würde ich sagen, denn dieses Buch ist mir noch frisch in Erinnerung. Und so weiter. Es ist ein sehr schmaler Einblick in die Ukraine, man sieht kaum die typischen Sonnenblumen und ein Stückchen blauen Himmel, und manchmal spricht Katya eher wie eine Frau aus dem Mittleren Westen als wie ein Mädchen vom ukrainischen Lande. Was ich damit sagen will, ist, dass nicht viel Authentizität vermittelt wird. Ich bin mir nicht einmal sicher, warum der Film den Titel „The Memory Keeper of Kyiv“ trägt, denn Katya ist gar nicht in Kiew, ihr Dorf liegt in einer anderen Oblast. Wahrscheinlich ein Werbetrick, um davon zu profitieren, dass die Ukraine gerade in den Nachrichten ist?
Wie dem auch sei, ich denke, es ist ein guter Versuch, das Bewusstsein für die Tragödie der ukrainischen Hungersnot zu schärfen, und ich mochte die Geschichte von Katya. Ich kann mich nicht erinnern, andere Romane mit diesem Thema gesehen zu haben, und allein deshalb ist es ein sehr wichtiges Buch, das man jetzt lesen sollte.
- Herausgeber : Lübbe; 1. Aufl. 2022 Edition (29. Juli 2022)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 400 Seiten
- ISBN-10 : 3785728328
- ISBN-13 : 978-3785728321
- Lesealter : Ab 16 Jahren
- Originaltitel : The Memory Keeper of Kyiv
- Abmessungen : 14.3 x 3.8 x 21.7 cm