
In „Kinder des Radiums“ erzählt der britische Schriftsteller Joe Dunthorne die Geschichte seiner eigenen Familie – und dabei macht er eine unglaubliche Entdeckung: Einer seiner Vorfahren, der jüdische Urgroßvater Siegfried Merzbacher, hat in Deutschland in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren gelebt und gearbeitet. Er war Chemiker und stellte damals Haushaltsprodukte her – unter anderem eine Zahnpasta, die radioaktive Stoffe enthielt. Damals wusste man noch nicht, wie gefährlich diese Stoffe wirklich waren. Deshalb benutzten viele Menschen die Zahnpasta, auch Dunthornes Großmutter.
Doch das ist nur der Anfang einer noch viel komplizierteren Geschichte. Denn obwohl Siegfried Merzbacher Jude war, arbeitete er später auch an chemischen Waffen für das nationalsozialistische Deutschland – also für das Regime, das Juden verfolgte und Millionen von Menschen ermordete. Das scheint zunächst völlig unverständlich: Wie kann ein jüdischer Mann, der bald selbst fliehen musste, für die Nazis Waffen entwickeln?
Ein persönlicher Auftrag führt zu großen Fragen
Joe Dunthorne wurde eingeladen, einen Vortrag über die Geschichte seiner Familie während der NS-Zeit zu halten. Dafür beginnt er, alte Briefe und Aufzeichnungen zu lesen. Besonders wichtig sind dabei die Memoiren seines Urgroßvaters, also ein langer Lebensbericht, den dieser selbst geschrieben hat. Diese Erinnerungen umfassen die Jahre von 1890 bis 1970 – eine lange und bewegte Zeit. Aber: In diesem Lebensbericht erwähnt Merzbacher seine Arbeit für die Nazis nicht. Auch über seine Flucht 1935 schweigt er.
Gerade dieses Schweigen wirft viele Fragen auf. Warum spricht er nicht darüber? Schämte er sich? Oder wollte er seine Familie schützen? Joe Dunthorne beginnt, Antworten zu suchen – in alten Dokumenten, an Orten in Deutschland, der Türkei und den USA. Dabei stößt er auf viele Überraschungen und Ungereimtheiten. Zum Beispiel erfährt er, dass seine Familie damals in Oranienburg bei Berlin lebte – in einer Stadt, die heute noch wegen der vielen alten Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg als gefährlich gilt. In dieser Stadt hatte Merzbacher eine Fabrik. Dort stellte er neben der Zahnpasta auch Gasmasken und Chemikalien her, die für den Krieg gebraucht wurden.
Eine Spurensuche über Generationen hinweg
Die Geschichte von „Kinder des Radiums“ ist mehr als nur eine Familienbiografie. Sie ist ein Buch über das Suchen nach Wahrheit – und über das, was wir über unsere Vorfahren wissen, oder eben nicht wissen. Dunthorne fragt sich: Wie konnte sein Urgroßvater für ein System arbeiten, das seine eigene Familie bedrohte? Und wie geht man heute mit solchen Wahrheiten um? Was bedeuten Schuld und Verantwortung – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Nachkommen?
Gleichzeitig zeigt das Buch, wie sich Traumata und verdrängte Erinnerungen über Generationen weitervererben. Dunthornes Großmutter hat als Kind in einem Haus gelebt, das direkt neben der gefährlichen Chemie-Fabrik lag. Bis heute erinnert sie sich an das Geräusch der Maschinen, das sie beim Einschlafen hörte. Solche Erinnerungen sind oft tief im Gedächtnis verwurzelt – auch wenn niemand in der Familie offen darüber spricht.
Ein Buch über schwierige Wahrheiten – aber auch über Hoffnung
Trotz der ernsten Themen ist „Kinder des Radiums“ kein trauriges oder schwer verständliches Buch. Joe Dunthorne schreibt auf eine sehr einfühlsame und oft sogar humorvolle Weise. Er verurteilt nicht, sondern stellt Fragen. Er beschreibt, wie schwierig es ist, mit den Widersprüchen der Vergangenheit umzugehen. Vor allem zeigt er, dass die Wahrheit manchmal unbequem ist – aber dass es wichtig ist, sich ihr trotzdem zu stellen.
Der Autor reist nicht nur durch verschiedene Länder, sondern auch durch die Erinnerungen und Geschichten seiner Familie. Dabei entstehen viele eindrucksvolle Szenen: von einer Kindheit in einer radioaktiven Wohnung bis hin zu einem Neubeginn im Exil in der Türkei und später in Amerika.
Eine Geschichte für alle, die sich für Geschichte interessieren – und für das Leben selbst
„Kinder des Radiums“ ist ein Buch für Menschen, die sich fragen, woher sie kommen. Für alle, die sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen – oder die wissen wollen, wie Geschichte in persönlichen Lebensgeschichten weiterwirkt. Es ist auch ein Buch über die Zeit des Nationalsozialismus, aber es zeigt diese Zeit aus einer ungewöhnlichen Perspektive: nicht aus der Sicht eines Helden oder eines Täters, sondern aus der Sicht eines Menschen, der irgendwo dazwischen steht – in einer „Grauzone“, wie es der Autor beschreibt.
Gerade das macht das Buch so besonders: Es zeigt, dass das Leben selten nur schwarz oder weiß ist. Es ist voller Widersprüche, Überraschungen und schwieriger Entscheidungen. Und trotzdem – oder gerade deswegen – lohnt es sich, genau hinzusehen.
Fazit:
„Kinder des Radiums“ ist eine beeindruckende und spannende Familiengeschichte. Sie verbindet persönliche Erinnerungen mit großen historischen Fragen. Joe Dunthorne gelingt es, ein dunkles Kapitel der Vergangenheit auf eine kluge, berührende und auch mutige Weise zu erzählen. Wer dieses Buch liest, wird nicht nur viel über Chemie, Krieg und Geschichte erfahren – sondern auch über das Menschsein selbst.
- Herausgeber : Berlin Verlag
- Erscheinungstermin : 4. April 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 256 Seiten
- ISBN-10 : 3827014506
- ISBN-13 : 978-3827014504
- Abmessungen : 12.8 x 3 x 21 cm
- 24 Euro