/ April 11, 2023/ Ratgeber

Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können

LAUT von Sawsan Chebli

Die Politikerin der SPD, Sawsan Chebli, berichtet in ihrem Buch über die negative Reaktion, die sie auf Twitter erfahren hat, sowie über ihre Erfahrungen in einer bedürftigen Kindheit. Zudem stellt sie ihre Vorstellung eines digitalen Ehrenamts vor, welches dazu beitragen soll, das Internet freundlicher zu gestalten. Hierbei handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Buch.

Eines Samstagmorgens im Oktober 2018 begann ich meinen Tag wie gewohnt mit Twitter. Ich scrollte durch meinen Feed und plötzlich sah ich ein Foto von mir selbst, aufgenommen im Jahr 2014, auf dem ich ein seriöses Lächeln trug. An meinem Handgelenk trug ich meine Rolex-Armbanduhr, die auf dem Foto gut zu erkennen war. Das Bild war ein Pressefoto aus meiner Zeit als stellvertretende Sprecherin im Auswärtigen Amt. Der Twitter-Nutzer hatte das Anzeigenmotiv meiner Uhr neben das Bild montiert und bekannt gegeben, dass es sich um eine Datejust 36 handelt, die 7300 Euro kostet. Der dazugehörige Kommentar lautete: „Alles, was man über den Zustand der Sozialdemokratie 2018 wissen muss“.

Danach habe ich die Reaktionen auf Twitter durchgesehen und einige Kommentare gefunden:

„Während die SPD-Führungskraft #Chebli sich eine Uhr für 7300 € kauft, kann ein normaler Bürger einen Füller für 489 € im SPD-Shop erwerben. Das ist das Konzept der neuen sozialen Gerechtigkeit, das die SPD propagiert!“

„#Chebli ist ein typischer Vertreter der Sozialdemokraten: Sie hat noch nie wirklich gearbeitet und zeigt stolz ihre Rolex-Uhr, die sie durch die Steuern der armen Rentner finanziert hat, die Flaschen sammeln müssen.“

Ich habe tief eingeatmet, Twitter geschlossen und beschlossen, mich davon nicht weiter stören zu lassen. Ich ging ins Badezimmer und drehte das Wasser für die Dusche auf. Während das Wasser auf meine Haut prasselte, kamen die Worte in meinem Kopf wieder hoch: Otto Normalverbraucher, nie etwas Richtiges gearbeitet, Protz.

Als ich noch ein Kind war, war ich froh über alles, was ich hatte. Ich wurde im Jahr 1978 als zwölftes von dreizehn Kindern in Berlin geboren. Es dauerte bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr, bis ich die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Davor waren meine Familie und ich staatenlos und wurden nur geduldet. Bis ich sieben Jahre alt war, wurde mein Vater zweimal abgeschoben. Im Alter von zehn Jahren übernahm ich den „Job“ meines älteren Bruders, für meine Eltern bei Behördengängen zu dolmetschen.

Es gab keine Integrations- oder Deutschkurse für uns. Mein Vater konnte sich auf Deutsch verständigen, weil er in einer Hotelküche als Spüler arbeitete. Meine Mutter hätte gerne Deutsch gelernt, aber sie kannten Deutschland nur durch ihre Nachbarn und Sachbearbeiterinnen. Wie sollten meine Eltern die Sprache und Kultur lernen?

Kürzlich erzählte mir meine jüngere Schwester, dass ich oft die abgelegte Levi’s 501 meines Bruders trug, obwohl sie mir bis unter die Achseln reichte und ich einen Gürtel zweimal um den Bund ziehen musste, damit sie nicht runterrutschte. Meine Kindheit war keine romantische Zeit. Es gab ein paar schöne Momente, an die ich mich sehr bewusst erinnere: unsere kleine Wohnung war fast wie ein nachbarschaftliches Begegnungszentrum und es gab eine starke Community und großen Zusammenhalt. Meine Eltern haben uns aufrichtig geliebt.

Im Alltag erlebte ich eine schwierige Zeit: Die Familie wohnte in einer Dreizimmerwohnung in der Lehrter Straße in Moabit, ohne Heizung, sondern mit großen Kachelöfen in jedem Zimmer. Der Vater brachte oft Gegenstände wie Küchengeräte, Kleidung und Spielzeug von neben Mülltonnen mit, die sie mit Chlor reinigten und benutzten. Um Wasser zu sparen, musste sich jeder einmal pro Woche duschen und sich mit der kleinen Schwester einen Plastikeimer teilen. Der Vater sammelte Holz, und die Kinder mussten helfen, es zu hacken, in Kartons zu packen und in die zweite Etage zu schleppen. Ich fühlte mich aufgrund ihrer Armut ausgegrenzt und hatte das Gefühl, dass sie von Mitschülern und Lehrern anders behandelt wurde. Die Familie erhielt Unterstützung vom Sozialamt, um Schulmaterialien zu kaufen, aber die Prozedur war demütigend und peinlich. Anstatt Bargeld zu erhalten, bekamen sie Lebensmittelgutscheine, die nur für bestimmte Supermärkte und Lebensmittel galten. Diese Gutscheine waren begrenzt und verfielen, wenn sie nicht rechtzeitig eingelöst wurden. Der Einkauf mit diesen Gutscheinen war oft peinlich und unangenehm, da man sich an der Kasse unwohl fühlte. Ich fragte mich wie Integration in solchen Umständen möglich sein soll. Heutzutage würde ich meine Probleme auf Twitter teilen, aber damals war das undenkbar. Nachdem ich auf Twitter für den Kauf einer Rolex kritisiert wurde, fühlte ich mich wütend und tweetete über ihre Erfahrungen mit Armut und Ausgrenzung.

Die Angriffe, die sie erhielt, enthielten Rassismus, Sexismus und die Klassenfrage. Einige Leute fragten sich, warum sie als Sozialdemokratin eine teure Uhr tragen würde, während andere Kommentatoren sagten, dass sie genug Erfolg habe und dass sie zufrieden sein sollte. Sawsan betonte, dass sie trotz des Systems erfolgreich wurde und dass es für arme Menschen schwierig ist, Armut zu überwinden. Sie beschrieb auch, wie ihre Eltern im Netz gehasst werden, weil sie von Sozialhilfe gelebt haben, und wie sie sich unsicher fühlt und nicht alleine ausgehen kann, seit sie mit Hass konfrontiert wurde. Sie beschreibt auch einen körperlichen Angriff, den sie erlitten hat, und betont, dass solche Hassrede nicht als Meinung oder Diskursbeitrag bezeichnet werden sollte. Sawsan fordert mehr demokratische Stimmen, die sich gegen Hass und Hetze einsetzen.

Trotz dieser schwierigen Lebensumstände gibt es auch schöne Momente, an die sie sich erinnert. Das Buch beschreibt auch, wie sie ihre schwierige Kindheit überwunden hat und sich als Politikerin und Aktivistin engagiert hat, um anderen zu helfen. Insgesamt ist das Buch eine inspirierende Lektüre, die den Leser dazu ermutigt, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Goldmann Verlag; Originalausgabe Edition (29. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 240 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3442317061
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3442317066
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13.7 x 2.5 x 21.6 cm

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