
Thomas Nicolai hat es wieder getan. Nach seinem ersten Roman kommt nun Maulberg, eine bitterböse Satire über ein sächsisches Dorf, das beschließt, sich vier Wochen lang freiwillig in die Vergangenheit zu katapultieren – genauer gesagt in die „gute alte DDR“. Was kann da schon schiefgehen? Antwort: Alles.
Ostalgie auf Rezept – mit Nebenwirkungen
Wir schreiben das Jahr 2016. Während die halbe Welt sich über Globalisierung, Digitalisierung und andere komplizierte Dinge den Kopf zerbricht, beschließen die Bewohner von Maulberg: Das war früher doch alles einfacher! Das Ehepaar Sendler, frisch aus dem Westen importiert, hat eine bahnbrechende Idee: Zum 400-jährigen Dorfjubiläum könnte man doch mal vier Wochen lang die DDR nachspielen. Komplett mit „Kaufhalle“, „Schwarzem Kanal“ im Fernsehen und natürlich dem unausweichlichen Mangel an allem.
Dass diese Schnapsidee ausgerechnet von einem Wessi kommt, sorgt natürlich für Unmut. Aber seien wir ehrlich: Wer würde so ein absurdes Experiment besser beaufsichtigen als jemand, der garantiert keine Ahnung hat, wie es damals wirklich war? Also geht Maulberg mutig zurück in die Zukunft – und zwar mit wehenden Pioniertüchern.
Die Simulation gerät außer Kontrolle
Was als launiges Theaterstück beginnt, entwickelt sich schnell zum method acting der Extraklasse. Während sich die ersten noch über nostalgische Bückware im Supermarkt freuen, wird bald klar: Wer DDR spielt, muss auch mit den Regeln leben. Das bedeutet Kontrollen, Bürokratie, den freundlichen Herrn von der Stasi-Nachstellungstruppe – und natürlich eine Dorfdiktatur mit einem Bürgermeister, der seine Rolle etwas zu ernst nimmt.
Plötzlich gibt es wieder Anträge für Bananen, systemtreue Spitzel und Parteiversammlungen mit Pflichtapplaus. Der alte Schulkamerad wird mit einem misstrauischen Blick bedacht – könnte ja sein, dass er beim Westbesuch 1985 doch mehr als nur Kaugummi mitgebracht hat. Und während die Maulberger mit wachsender Begeisterung in die Vergangenheit abdriften, stellt sich eine entscheidende Frage: Wie kommen sie da eigentlich wieder raus?
Eine Satire mit Langzeitwirkung
Nicolai seziert mit scharfem Witz die Ostalgie-Welle und zeigt, dass der Blick in die Vergangenheit oft mit rosaroten Scheuklappen erfolgt. Maulberg ist ein Brennglas für absurde Sehnsüchte, verkorkste Erinnerungen und den unermüdlichen Glauben, dass früher alles besser war – solange man die unbequemen Teile einfach ausblendet.
Dabei gelingt es ihm, die schmalen Gratwanderungen zwischen Humor, Gesellschaftskritik und reinem Wahnsinn so virtuos zu meistern, dass man sich beim Lesen immer wieder fragt: Ist das noch Satire oder sind wir längst in der Realität angekommen?
Eines ist sicher: Maulberg ist eine bitterböse, urkomische und höchst aktuelle Abrechnung mit dem Vergangenheitskult. Wer lachen will – und dabei ein paar unangenehme Wahrheiten serviert bekommen möchte – sollte dieses Buch unbedingt lesen. Denn wie sagt man so schön? Die Geschichte wiederholt sich – erst als Tragödie, dann als Farce. Und in Maulberg passiert beides gleichzeitig.
- Herausgeber : SATYR Verlag; 1. Edition (3. März 2025)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 350 Seiten
- ISBN-10 : 3910775314
- ISBN-13 : 978-3910775312
- Abmessungen : 13.3 x 3.6 x 19.7 cm
- 24 Euro