/ April 22, 2023/ Romane

Man kann den neuen Roman nicht einfach ignorieren, da er viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, sowohl positiv als auch negativ. Der Autor selbst beschreibt die verschiedenen Reaktionen seiner Leser. Der Roman enthält alle Elemente einer fesselnden Geschichte, wie Prominente, Sexualität und Verbrechen. Er stellt auch die Medien und ihre patriarchalen Strukturen in den Fokus, nicht nur in großen Medienhäusern, sondern generell in der Gesellschaft.

In einer Selbsthilfegruppe lernt der Erzähler eine Frau namens Sophia kennen, die Praktikantin bei einem großen Boulevard-Sender ist. Obwohl sie aus verschiedenen Bereichen kommen, gründen sie eine Gruppe und tauschen sich aus. Dabei erfährt der Erzähler von den anzüglichen Nachrichten, die Sophias Chef, der Chefredakteur des Senders, ihr schickt. Trotz der starken Machtungleichheit beginnen sie eine Affäre und treffen sich regelmäßig zum Sex. Durch diese Beziehung erhält Sophia eine Karrierechance und darf eine Prime-Time-Sendung moderieren. Später stellt sich heraus, dass Sophia nicht die einzige Frau ist, die solche Erfahrungen beim Sender gemacht hat. Viele Frauen schließen sich zusammen, um gegen den Chefredakteur vorzugehen und ein Compliance-Verfahren einzuleiten.

Der Erzähler ähnelt Benjamin von Stuckrad-Barre und gibt zu, dass es schwierig sein kann, in seiner Rolle zu sein. Er zeigt jedoch auch Selbstreflexion und geht zur Therapie, um seine eigene Subjektivität zu erkennen. Obwohl er sich als konfliktscheu darstellt, spricht er sich gegen den Machtmissbrauch von Männern in Führungspositionen aus. Dies ist trotz der Fortschritte der Gesellschaft immer noch ein aktuelles Thema, wie Skandale um prominente Persönlichkeiten zeigen. Der Erzähler erkennt, dass seine Meinungsbildung nicht unabhängig von seinem eigenen Standpunkt ist. Er gibt zu, dass er dazu neigt, negative Dinge über Menschen zu glauben, die er nicht mag. Trotzdem betont er die Wichtigkeit von Selbstreflexion und Ambiguitätstoleranz, um eine umfassendere Perspektive auf die Dinge zu bekommen.

Die #metoo Bewegung wurde durch den Skandal um Harvey Weinstein ausgelöst, bei dem es um einvernehmlichen Sex mit Untergebenen ging. Im Roman wird die Situation als asymmetrische Machtverteilung beschrieben, bei der die Praktikantin die Beziehung nicht ohne schädliche Folgen für ihre Karriere beenden kann, während der Mann einfach weiter seine Karriere verfolgt. Rose McGowan, eine der ersten Frauen, die sich in der Weinstein-Affäre äußerte, sagt im Buch: „Ich wurde wenigstens vergewaltigt“. Obwohl Weinstein verurteilt wurde, hatte McGowan danach Schwierigkeiten, Jobs zu bekommen, und ihre Karriereliste endet 2017 in Wikipedia.

Im Roman wird die Sprache der verschiedenen Charaktere sehr genau und realistisch dargestellt. Der Autor entlarvt die Phrasen seines mächtigen Freundes, der immer wieder dieselben Zitate verwendet. Auch die Sprache der Suchtgruppen-Mitglieder und des Chefredakteurs wird genau wiedergegeben. Besonders schön sind die selbstironischen Stellen, wie zum Beispiel als der Erzähler sich im Winter in einem Ruderboot hinsetzt, um melancholisch zu sein. Die Sprache im Roman ist sehr nah an gesprochener Sprache und verwendet oft Begriffe in Versalien, um die Intonation zu imitieren.

Im Roman „Noch wach?“ geht es um das Thema von Dichtung und Wahrheit, also darum, wie nah an der Realität literarische Werke sein können. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Nähe zur Wirklichkeit, insbesondere im Bezug auf Personen wie den Springer Chef Mathias Döpfner und den ehemaligen BILD Chefredakteur Julian Reichelt, die offensichtlich als Vorlage für Figuren im Roman dienen. Diese Nähe zur Realität sorgt für hohe mediale Aufmerksamkeit und kann sogar zu einem Shitstorm führen. Der Autor versteht es jedoch, die Aufmerksamkeit auf das Thema der Machtstrukturen und deren Auswirkungen zu lenken. Obwohl der Compliance-Prozess im Roman folgenlos bleibt, hat die Lektüre des Buches dazu beigetragen, den Blick für diese Problematik zu schärfen. Insgesamt also eine Win-Win-Situation für Opfer und Autor.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Kiepenheuer&Witsch; 1. Edition (19. April 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 384 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3462004670
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3462004670
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.9 x 3.4 x 21 cm

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