Auf die Frage „Wie soll denn Menschen in einer seelischen Krise ohne stationären Aufenthalt geholfen werden?“ werden viele Betroffene, Angehörige seelisch erkrankter Menschen und vor allem psychiatrisch Tätige irritiert reagieren denn in der Vergangenheit bewährte sich die stationäre psychiatrische Versorgung. Wie kann es sein, dass jemand in einem bewährtem System solch eine Frage stellt.
Der Autor – Psychiater – Matthias Heißler gelingt mehr als ein provozierendes Infragestellen. Er stellt seine Idee vor, wie sich die Begleitung seelisch erschütterter Menschen verändern könnte. Er wagt eine Annährung an veränderte Strukturen in seinem Buch „Psychiatrie ohne Betten“ und verändertes Handeln, wenn Menschen in Krisen geraten.
Ich find es gelingt ihm – in verständlicher Sprache rüttelt Heißler an den Überzeugungen und Haltungen derjenigen Menschen, die für die Begleitung von Betroffenen verantwortlich sind.
Mit seiner Idee steht er in einer Reihe anderer Vordenkerinnen und Vordenker, die sich nach der Psychiatrie-Enquete in den 1970er Jahren um die Umgestaltung des Systems verdient gemacht haben. In seinem Werk „Psychiatrie ohne Betten“ wurde auf eine Entwicklungslinie hingewiesen, die mit dem Lehrbuch „Irren ist menschlich“ (Ursula Plog und Klaus Dörner) begonnen hat.
Für manche Leute erscheint Heißler leicht als Spinner. Als verantwortlicher Chefarzt in einer psychiatrischen Abteilung im DRK-Krankenhaus in Geesthacht war er verantwortlich und gehörte zu den visionären Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die in der Begleitung seelisch erschütterter Menschen die Ärmel hochgekrempelt haben. Mit diesem Hintergrundwissen wird natürlich die Glaubwürdigkeit seines kenntnisreichen und anregenden Buchs gesteigert.
Heißler schreibt nüchtern„Der Ort des Lebens muss zur rechten Zeit zum Ort der Behandlung werden“, (S. 74). Die Psychiatrie soll vom Kopf auf die Füße gestellt werden, „sie aus ihrem selbst gewählten Gefängnis im Kontext des klinischen Raums zu befreien und sie zu einem Werkzeug werden zu lassen, das im Leben steht und daraus seine Berechtigung herleitet im Dienst des Menschen“ (S. 74) so seine Forderung. Es geht Heißler um ein politisches Verständnis psychiatrischen Handelns – aber andererseits zeigt sich eine Menschennähe, die sehr bodenständig erscheint.
Heißler versteht Heißler seinen Adressatenkreis als trialogisch und daher scheint es nicht als Überraschung, dass viele Stichworte wie Sozialraumorientierung und Solidarität fallen. Worte wie Harmonie und Metamorphosen wirken auf den ersten Blick befremdlich. Wenn man die Gedanken Heißlers verfolgt so merkt man sehr rasch, dass sie in der psychiatrischen Versorgung mit Leben gefüllt werden könnten.
Heißler legt einen großen Wert darauf, dass in der Begleitung seelisch erschütterter Menschen die Beziehungsarbeit beachtet wird. Es fehlen keine kritischen Bemerkung zu einer biologisch-pharmakotherapeutischen Psychiatrie.
Er versucht den Rosaschen Begriff der Resonanz in der psychiatrischen Begleitung zu gestalten. Nicht nur auf neuronaler Ebene findet wechselseitiger Austausch statt, „sondern auch auf der Ebene der Wahrnehmungen, der Handlungen und der Sprache“ (S. 42). Der Begriff des Mitschwingens wird kultiviert. Menschen müssten im Tun, Fühlen und Denken einander zugewandt sein, so Heißler.
Das Buch versteht sich als ein Weckruf, ein Aufruf, das eigene Denken und Handeln im psychiatrischen Kontext zu verändern. Es werden interessante Perspektiven aufgezeigt!
- Herausgeber : Psychiatrie Verlag; 1. Edition (11. November 2021)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 256 Seiten
- ISBN-10 : 3966051397
- ISBN-13 : 978-3966051392
- Abmessungen : 16.2 x 1.8 x 23.7 cm