/ Juli 28, 2025/ Buch

Egon Krenz – „Verlust und Erwartung“: Ein Zeitdokument von aufwühlender Kraft und aufrichtiger Tiefe

Was für ein Buch! Was für ein Rückblick! Egon Krenz, einer der letzten Zeugen und Akteure der dramatischsten Tage der DDR-Geschichte, legt mit „Verlust und Erwartung“ den dritten und abschließenden Band seiner autobiografischen Trilogie vor – und es ist ein Werk, das fesselt, überrascht, provoziert, nachdenklich macht und tief berührt.

In 39 eindrucksvollen Kapiteln nimmt Krenz seine Leser mit auf eine Reise durch die letzten Jahre der DDR – jene aufgewühlte Zeit von 1988 bis zum Untergang 1990, als Geschichte im Stundentakt geschrieben wurde. Mit klarer Sprache, scharfem Blick und aufrichtiger Emotionalität berichtet er von politischen Entscheidungen, innerparteilichen Spannungen, persönlichen Konflikten und historischen Weichenstellungen. Und vor allem – er erzählt seine Geschichte selbst, ohne fremde Filter, ohne journalistische Verkürzungen, ohne parteipolitische Korrektur. Und das ist gut so. Nein – das ist dringend nötig!

Ein Blick hinter die Kulissen – nahbar, ehrlich, mitreißend

Was in Schulbüchern oft nur mit ein paar dürren Sätzen abgetan wird, entfaltet sich hier in voller Komplexität und Dramatik. Krenz gewährt intime Einblicke in das Innenleben der SED-Führung – in Risse, die sich über Jahre aufgebaut hatten, in das zunehmend brüchige Verhältnis zu Erich Honecker, in die Reibungspunkte zwischen den verschiedenen politischen Lagern innerhalb der DDR-Spitze. Der Leser wird Zeuge, wie sich Vertrauen in Misstrauen verwandelt, wie Hoffnung auf Reformen in lähmende Angst vor Kontrollverlust umschlägt – und wie Krenz selbst zwischen Loyalität und Veränderungswillen zerrieben wird.

Dabei ist das Buch keineswegs eine Rechtfertigungsschrift. Vielmehr gelingt es Krenz, mit bemerkenswerter Offenheit eigene Fehler zu benennen – aber auch, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Etwa, wenn er die Rolle Gorbatschows hinterfragt, der in der westlichen Darstellung gern als Held der Freiheit verklärt wird, dessen Verhalten gegenüber der DDR-Führung aber – so zeigt Krenz – alles andere als solidarisch oder konsequent war. Auch Honecker wird differenzierter gezeigt als es gemeinhin üblich ist: als ein Mann, der lange Zeit auf Krenz setzte, dann aber in der Schicksalsstunde seines Staates die Zeichen der Zeit nicht mehr lesen konnte – oder wollte.

Staatsoberhaupt auf Zeit – 50 Tage zwischen Hoffnung und Untergang

Besonders packend sind die Kapitel über jene historischen 50 Tage, in denen Egon Krenz als Staatsoberhaupt der DDR amtierte. Es sind Tage zwischen Chaos und Chance, zwischen untergehender Ordnung und aufkeimender Erwartung. Der Leser spürt in jeder Zeile die Schwere der Verantwortung, den Druck der Straße, die lähmende Machtlosigkeit gegenüber Entwicklungen, die längst nicht mehr zu stoppen waren. Und dennoch: Krenz bleibt nicht in Resignation hängen. Sein Blick ist analytisch, sein Ton gefasst – oft sogar überraschend warmherzig.

Ein zweiter Teil mit Tiefgang – Gefängnis, Prozess und das Leben danach

Nach rund 150 Seiten folgt ein ebenso bewegender wie aufrüttelnder zweiter Teil: „Die Zeit danach“. Hier geht es um Aufarbeitung, um Schuld, um Deutungshoheit – und um den Umgang mit Geschichte in einem geeinten Deutschland, das in der Realität jedoch oft alles andere als geeint erscheint. Der sogenannte Schießbefehl-Prozess, der Umgang mit früheren DDR-Funktionären, der Knast – all das schildert Krenz eindrucksvoll und ohne Selbstmitleid. Was aber wirklich bewegt, ist die tiefe Überzeugung, mit der er für einen differenzierten Blick auf die DDR eintritt.

Eine Stimme gegen das Vergessen – mit Mut, Verstand und Herz

Krenz hält dagegen, wenn die DDR pauschal dämonisiert wird. Er benennt soziale Errungenschaften, kollektive Werte, ein Miteinander, das für viele Menschen real und wichtig war. Natürlich, auch Kritik bleibt nicht aus – aber sie wird eingebettet in einen historischen und menschlichen Kontext, der so oft fehlt. Besonders eindrucksvoll ist ein Satz auf Seite 340, der sinnbildlich für den ganzen Band steht:

„Dass es im Osten Menschen gab, die es vorzogen, ohne Kapitalisten zu leben, für die nicht der Ellenbogen das wichtigste Körperteil in den zwischenmenschlichen Beziehungen war… das wollte und will absolut nicht in die Köpfe der DDR-Hasser, die in der Politik und in den Medien das Sagen hatten und haben.“

Ein Satz wie ein Paukenschlag – unbequem, ehrlich, notwendig.

Gestaltet mit Herzblut – ein Buch zum Eintauchen

Neben dem packenden Inhalt punktet das Buch auch mit seiner Aufmachung: Hardcover, hochwertiger Druck, angenehm lesbare Typografie – und als besonderes Extra: 32 Seiten Fotomaterial auf Kunstdruckpapier, darunter viele private Aufnahmen, die dem Buch eine zusätzliche emotionale Tiefe verleihen. Man sieht den Menschen Krenz – und nicht nur den Politiker.

Fazit:

„Verlust und Erwartung“ ist weit mehr als ein Rückblick. Es ist ein Zeitzeugnis, ein Aufruf zum Denken, ein Dokument politischer und menschlicher Erfahrung. Wer sich ernsthaft mit der Geschichte der DDR auseinandersetzen will – jenseits von Klischees, Diffamierungen und einfältiger Schwarz-Weiß-Malerei – kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Egon Krenz hat etwas geschaffen, was nur wenige Politiker schaffen: Er berührt, er bewegt, er regt zum Nachdenken an. Mit diesem Werk gibt er der Geschichte der DDR – und vor allem den Menschen, die sie gelebt haben – eine würdige Stimme. Und vielleicht auch ein Stück Gerechtigkeit.

Uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die verstehen wollen, statt nur zu urteilen.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Das Neue Berlin
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 21. Juli 2025
  • Auflage ‏ : ‎ 2.
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 384 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3360028171
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3360028174
  • Abmessungen ‏ : ‎ 15.1 x 3.3 x 21.1 cm
  • 26 Euro

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