Sieburg hat dieses Tagebuch vom 23. November 1944 bis zum 15. Mai 1945 verfasst als Mikrogramm in kleiner Bleistiftschrift aus Angst vor der Beschlagnahme durch die Gestapo. Er hoffte das es vor unerwünschten Lesern verborgen bleibt. Er schildert in spannendem Stil den Untergang des Dritten Reiches und des verlorene Kriegs. Ebenfalls notiert er persönliche Dinge zu seiner Ehe mit der aus württembergischen Adel stammenden Dorothee, verwitweten Gräfin Pückler, geb. von Bülow. Er beschreibt sein Leiden an den inneren und äußeren Umständen nicht ohne Selbstmitleid.
Zu der Zeit lebte Sieburg in Rübgarten, dem Herrensitz seiner Frau südlich von Stuttgart, von wo er zunächst nach Tübingen, später in das Kloster Bebenhausen auswich.
Mich hat dieses Werk erschüttert. Der Autor konnte bereits vor 1933 erste Erfolge als Schriftsteller feiern. Von ihm kam zum Beispiel das Werk Gott in Frankreich (1929). Er konnte nach 1948 in einer zweiten Karriere an diese Erfolge wieder anknüpfen.
Nun erlebt man ihn am Tiefpunkt seines Lebens. Er klage oft über „Tiefste Depression. Mir ist, als ob ich versänke. Unaufhörlich denke ich an den Tod, an Selbstmord.“ (S. 145) Warscheinlich lag es daran das er den letzten Monaten des Krieges in Deutschland miterlebte. Ich denke das dieses Buch ein wichtiges Zeit-Dokument für die Zeit des Untergangs ist. Er berichtet er, z. B. über die Bombardierung von Heilbronn, bei der die Royal Air Force Phosphorbomben eingesetzt hat und dadurch 6500 Menschen gestorben sind.
„Die langen Zeilen neben einander liegender Leichen. Die Keller sind noch lange nicht alle aufgedeckt. Die Toten sind darin in friedlichen Stellungen erstarrt, Lunge zerrissen, offenbar ein milder Tod. Was auf die Straße stürzte, verbrannte fackelgleich. Viele Mütter warfen, wahnsinnig geworden, ihre brennenden Kinder ins Wasser. So sieht das aus, was die Engländer Angriffe auf Eisenbahnziele nennen.“ (S. 57)
Nebenbei wird dieses Geschehen außerdem noch von einer privaten Tragödie überschattet. Er musste die letzten Monaten seiner Ehe mit seiner Frau Dorothee, von der er sagt: „Sie ist wirklich im wahrsten Sinne des Wortes vom Teufel besessen.“ (S. 44) erleben.
Hier einige Zeilen über den Heiligabend am 24. Dezember 1944:
„Sie war eine Wahnsinnige, warf mich zu Boden und misshandelte mich. (…) Was an diesem Tag des heiligen Abend folgt, mag ich selbst diesen verschwiegenen Seiten nicht anvertrauen. Es ist zu furchtbar, gleich einem Traum den der Verdammte in der Hölle zur Erhöhung seiner Qual träumen muss. Das Furchtbarste dabei ist, dass D. nun auch ihre Mutter schlägt und zu Boden tritt. Nie werde ich vergessen, wie diese arme zerstörte Frau unter den Tritten ihrer Tochter zu Boden stürzt – und doch im nächsten Augenblick wieder bereit ist, ihr zu helfen und zuzusprechen.“ Sieburg flieht und schließt sich in ein Zimmer ein. „Ich verbringe eine traurige Nacht mit unruhigem Schlaf. Meine Wunden schmerzen, mein Gesicht ist mit tiefen Kratzwunden bedeckt, das Haar wurde mir büschelweise ausgerissen. Ich bin vor ausweglosem Gram ganz stumpf.“ (S. 80)
Schaut man sich ein Foto dieser Frau an (S. 213), so kann man sich das kaum vorstellen. Warum das so war oder welche Ursachen es hatte will und kann ich nicht weiter schildern und beurteilen.
Der Autor Joachim Kersten schildert in seinem kenntnisreichen Nachwort vom „Masochismus“ Sieburgs. (S. 208) Kersten geht hier auch auf die hellen und dunklen Seiten in Sieburgs Leben ein. „War Sieburg ein Nazi? Joachim Fest attestierte ihm, ‚zwar kein Nazi, aber doch ein hoch feiner Collaborateur gewesen zu sein’. (S. 214)
Das Gegenteil schreibt Sieburg über die SS : Sie stehe ihm nahe, weil sie „das Kleinbürgerliche völlig von sich abgeschüttelt hat und wirklich einen neuen Typ jenseits ihrer soziologischen Ursprünge darstellt. Man kann ihr beim besten Willen nicht vorwerfen, dass sich in ihrem Dynamismus irgendwelches soziales Ressentiment verberge. Darum gehört ihnen denn auch in Deutschland die Zukunft.“ (S. 114f.)
Diesen „widrige“ Text könnte man an die Seite legen – wenn hier nicht von vielem Anderen und auch von anderen Zeitgenossen die Rede wäre. Sieburg schreibt über Annette Kolb, Ricarda Huch, den Germanisten Paul Kluckhohn u. a., über die Jazzbegeisterung dieser Zeit und über das „Problem des Tagebuchschreibens“. (S. 20)
Er trifft sich einige Male mit Carlo Schmidt, in ihren Gesprächen geht es auch um Schmidts Baudelaire-Übersetzung. (S. 90f.) Zwischendurch erfahren wir einiges über Sieburgs breit gefächerte Lektüre. So liest er z. B. Ernst Jüngers zweites Kriegstagebuch Gärten und Straßen (1942), geht aber nicht weiter darauf ein. (S. 161)
Im hinteren Teil des Werks berichtet Sieburg über den Einmarsch der Franzosen in Tübingen und Umgebung. Er konnte ausgezeichnet Französisch sprechen, kommt mit einigen Offizieren in ein meist freundliches Gespräch.
Er ist traurig über die Zerstörung Deutschlands. „Meine Tränen fließen. Deutschland, einst meine unmenschliche Mutter, nun mein armes geliebtes Kind.“ (S. 197) Hier fallen auch die Worte, die die Herausgeber als Titel des Buches gewählt haben. „Ich fühle mich wie eine Fliege im Bernstein.“ (188) Und später am 8. Mai 1945: „Heute ist der letzte Tag des Krieges. Ein unbeschreibliches Ereignis, aber die Fliege im Bernstein spürt es nicht.“ (S. 199)
In seinem 1954 erstmals erschienenen Buch “ Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene“ warf Sieburg den Deutschen vor, sie empfänden eine Lust am Untergang. (Das Werk erschien 2010 in der Anderen Bibliothek).
Zunächst überlegte man, ob dieses Tagebuch veröffentlit werden solle. Dies erfährt man von Joachim Kersten abschließend in seinem Nachwort: „Da es sich um ein inzwischen historisches Dokument handelt, haben die Urheberrechtserben Alexandra und Johann Heinrich Senfft der Veröffentlichung dieses Tagebuchs zugestimmt.“ (S. 222)
Ein interessantes Werk, das wie ein Zeitzeuge überzeugt.
- Herausgeber : Wallstein; 1. Edition (27. Juli 2022)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 232 Seiten
- ISBN-10 : 3835352199
- ISBN-13 : 978-3835352193
- Abmessungen : 13.1 x 2 x 21.4 cm