Silke van Dyk , Tine Haubner
In letzter Zeit gab es viele verschiedene Krisen, die sich gegenseitig beeinflusst und verschärft haben. Das hat dazu geführt, dass der neoliberale Kapitalismus an Macht verliert. Neben den wirtschaftlichen und sozialen Problemen, die wir zum Beispiel während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 erlebt haben, zeigt sich jetzt auch, dass der Kapitalismus Probleme in Bereichen wie Demokratie, Klima und sozialer Wohlfahrt verursacht. Die Corona-Pandemie hat besonders deutlich gemacht, wie stark die Krise der sozialen Wohlfahrt ist und wie sie sogar lebensbedrohlich sein kann. Aber trotz all dieser Probleme sagen Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem neuen Buch „Community-Kapitalismus“, dass der neoliberale Kapitalismus immer noch existiert. Er hat sich sogar wieder angepasst und zeigt seine Flexibilität, indem er sich von der Idee des reinen Individualismus abwendet. Stattdessen sucht er nach Lösungen, die auf Gemeinschaft und Solidarität basieren. Das sieht er als neue Ressource für soziale Politik.
Van Dyk und Haubner haben in ihrem Buch den Begriff „Community-Kapitalismus“ entwickelt, um eine neue Form des Sozialstaats zu beschreiben. Dabei geht es um die Verbindung von unbezahlter oder geringfügig entlohnter Arbeit und Gemeinschaftspolitik, die außerhalb von Markt, Staat und Familie stattfindet. Diese Art von Arbeit umfasst Tätigkeiten wie ehrenamtliche Arbeit, freiwilliges Engagement, Nachbarschaftsprojekte, Pflegekollektive und vieles mehr. Der Staat versucht durch diese Form der Steuerung und Bearbeitung strukturelle und Legitimationsprobleme im gegenwärtigen Kapitalismus zu lösen.
Die Autorinnen betonen jedoch, dass sie damit nicht grundsätzlich zivilgesellschaftliches Engagement, alternative Wirtschaftsformen oder neue Formen der Solidarität und Selbstorganisation kritisieren möchten. Allerdings kritisieren sie, dass freiwillige Arbeit in gesellschaftlichen Diskursen oft unkritisch idealisiert und als etwas Heiliges dargestellt wird. Van Dyk und Haubner stellen die zentrale These auf, dass der Community-Kapitalismus auf Ausbeutung von unbezahlter Arbeit, Informalisierung und Entprofessionalisierung von Arbeit, Umwandlung sozialer Fragen in Fragen fürsorglicher Gemeinschaften und der Umwandlung sozialer Rechte in soziale Gaben beruht. Dadurch entstehen neue Widersprüche und Probleme, die kritisch betrachtet werden sollten.
Um die theoretische Einordnung in die Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung zu verstehen, schauen wir uns an, was die Autorinnen in ihrem Buch sagen. Sie beziehen sich auf aktuelle Debatten und Forschungsergebnisse aus der kritischen Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung. Diese Forschung beschäftigt sich mit Fragen des Wohlfahrtsstaats und der Fürsorgearbeit.
Die Autorinnen stellen fest, dass diese Debatten entweder die Tendenzen zur Verzivilgesellschaftlichung von nicht-entlohnter Sorgearbeit und den Rückgriff auf gemeinschaftsbasierte Sorgemöglichkeiten entweder nicht thematisieren oder sie affirmieren, also zustimmen. Es fehlt jedoch eine kritische Analyse dieser Entwicklungen. Die Forscherinnen sehen hier also eine Forschungslücke.
Um diese Lücke zu füllen, analysieren die Autorinnen die Bedeutungshorizonte und positiven Aspekte des Gemeinschaftsbegriffs. Dazu gehören Unmittelbarkeit, Natürlichkeit, Nähe, persönliche Bindung, Solidarität, Harmonie, Homogenität und Interessengleichheit. Sie betrachten auch die Diskursgeschichte der Gemeinschaft als Gegensatz zur modernen kapitalistischen Gesellschaft mit ihren entfremdenden Effekten.
Die Autorinnen stellen fest, dass in jüngerer Zeit die Gemeinschaft wiederentdeckt wurde. Dabei wird Gemeinschaft nicht mehr durch essentielle Merkmale, Zwang oder Schicksalhaftigkeit definiert, sondern zunehmend als freiwilliges Engagement wahrgenommen. Es wird betont, dass gerade diese Form der Gemeinschaft als freiwillige Aufgabe, also ihre Entnaturalisierung und Entessenzialisierung, die Voraussetzung dafür schafft, dass sie zum Gegenstand politischer Steuerung und Aktivierung wird. Diese Verschiebung macht sie hochgradig anpassungsfähig an die Prinzipien des flexiblen Kapitalismus.
Die Autorinnen van Dyk und Haubner präsentieren in ihrem Buch empirische Befunde aus einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt über Engagement und Freiwilligenarbeit im Wandel des Wohlfahrtsstaates. Sie kontextualisieren die Veränderungen im Ehrenamt in Bezug auf sozialstaatliche Entwicklungen. Dabei wird deutlich, dass der Staat versucht, freiwilliges Engagement an neue Anforderungen in der sozialen Versorgung anzupassen, indem er diskursive Strategien der Aufwertung und spezifische Politikinstrumente einsetzt.
Die Autorinnen betonen, dass die staatliche Förderung von Engagementpolitik die Informalisierung von Arbeit vorantreibt und die Grenzen zwischen formellen und informellen Tätigkeiten verschwimmen lässt. Dies führt zu De-Professionalisierung und Prekarisierung in vielen Bereichen.
Ein Bereich, in dem die Krise der sozialen Reproduktion und die Nutzung informeller Arbeit als Stützpfeiler des Wohlfahrtsstaates besonders deutlich wird, ist die Altenpflege. Die Autorinnen zeigen, wie informelle Hilfe von „sorgenden Gemeinschaften“ politisch gefördert wird, sei es durch Mobilisierung von Familienmitgliedern, Nachbarn, Freiwilligen oder migrantischen Arbeitskräften.
Die Bedeutung informeller Hilfs- und Unterstützungsstrukturen nimmt nicht nur im Gesundheits- und Pflegesektor zu, sondern auch im sozialen Nahraum, auf digitalen Plattformen und durch unbezahlte Mehrarbeit in der Erwerbsarbeit.
Die Autorinnen widmen sich auch den Schattenseiten der gemeinschaftlichen Unterstützung und Fürsorge. Obwohl es viele positive Beispiele für Engagement gibt, gibt es auch Probleme wie begrenzte Ressourcen, ungleiche Verteilung von Angeboten und eine teilweise partikularistische und paternalistische Haltung vieler Freiwilliger. Gemeinschaftliche Solidarität, die nicht auf staatlich garantierten sozialen Rechten beruht, sondern auf informellen Erwartungen der Gegenseitigkeit, kann dazu führen, dass bestehende Abhängigkeits- und Ungleichheitsverhältnisse fortbestehen.
Während viele Diagnosen von einer zunehmenden Ökonomisierung des Sozialen sprechen, argumentieren van Dyk und Haubner, dass der Fokus auf neue Grenzziehungen und Verantwortungszuweisungen im Bereich der sozialen Reproduktion gerichtet werden sollte. Der Community-Kapitalismus zeichnet sich durch einen doppelten Zugriff auf zivilgesellschaftliche Ressourcen aus, einerseits durch die Stärkung des Dritten Sektors und andererseits durch die Neuverteilung von Verantwortung zwischen Staat und Bürger*innen.
Die Betonung von Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit ist ein umstrittenes Konzept, das auf verschiedene Gegenbewegungen stößt. In den letzten Jahren hat sich eine Bewegung von unten entwickelt, die sich auf Teilhabe, Solidarität, den Aufbau neuer sozialer Beziehungen und alternative Formen des Wirtschaftens konzentriert. Diese Bewegung wird häufig von einem starken Anti-Etatismus und der Befürwortung posttraditioneller Gemeinschaftlichkeit geprägt. Gleichzeitig haben auch rechte Kräfte das Konzept der Gemeinschaft für sich entdeckt, insbesondere in ländlichen Regionen, die mit Infrastrukturproblemen und einer schwachen Zivilgesellschaft zu kämpfen haben.
Der Community-Kapitalismus gewinnt an Bedeutung, indem er den Wunsch nach Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit aufgreift und zu einer zentralen Ressource der Krisenbewältigung macht. Der Kapitalismus schafft es somit erneut, sich erfolgreich über seine Kriseneffekte hinweg neu zu organisieren. Es ist daher von großer Bedeutung, Alternativen zum Community-Kapitalismus zu entwickeln, die nicht auf die Aktivierung von zivilgesellschaftlichem Engagement und Freiwilligenarbeit setzen, sondern darauf abzielen, soziale Rechte, Infrastruktur und soziale Versorgung gemeinschaftlich zu gestalten und zu verwalten.
Die Analyse des Community-Kapitalismus bietet eine überzeugende Grundlage, um den Kapitalismus, den Wohlfahrtsstaat und die Krise der sozialen Reproduktion zu verstehen. Sie liefert wichtige Erkenntnisse für die Forschung, politische Debatten und emanzipatorische Perspektiven in Bezug auf die Frage nach einer nichtkapitalistischen Gesellschaft der Zukunft. Das Buch bietet eine kritische Perspektive auf die Wiederentdeckung von Gemeinschaft und gibt wichtige Hinweise für eine zeitgemäße Kritik am Kapitalismus, insbesondere angesichts der oft unkritischen Lobeshymnen auf zivilgesellschaftliches Engagement und Gemeinsinn.
- Herausgeber : Hamburger Edition; 1. Edition (11. Oktober 2021)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 176 Seiten
- ISBN-10 : 3868543546
- ISBN-13 : 978-3868543544
- Abmessungen : 10.5 x 1.4 x 17.3 cm