
Ein Sommer an der Küste von Cape Cod – wo das Rauschen des Atlantiks die Gedanken begleitet, wo Salznebel und Pinienduft die Luft erfüllen und wo Familien sich an langen Holztischen zu Festen versammeln. Doch was auf den ersten Blick nach idyllischer Sommerfrische klingt, birgt in Adrienne Brodeurs Roman „Das Sommerfest“ eine vibrierende, zutiefst menschliche Geschichte über Geschwisterrivalitäten, alte Verletzungen und die Frage, wie weit uns das Schicksal der eigenen Familie prägt.
Mit poetischer Kraft und psychologischem Scharfsinn erzählt Brodeur vom Aufeinandertreffen einer Familie, die anlässlich des 70. Geburtstags des Patriarchen Adam zusammenkommt – und dabei mehr auf den Tisch bringt als nur Austern und Weißwein. Cape Cod wird zur Bühne eines Festes, das wie ein glitzernder Vorhang den Blick auf Abgründe und Geheimnisse freigibt.
Im Zentrum stehen die Geschwister Ken und Abby, die seit jeher wie zwei Pole einer unruhigen Achse kreisen. Ken, der aalglatte Geschäftsmann, der in den Zeitungen mit Erfolgen glänzt, aber hinter verschlossenen Türen an einer zerbrechenden Ehe, an eigenen Dämonen und an der unerfüllbaren Sehnsucht nach Anerkennung leidet. Seine Sitzungen beim Psychiater – voller Widerwillen, Ironie und Selbstverleugnung – zeigen einen Mann, der sich selbst im Weg steht. Ihm gegenüber Abby, die Künstlerin, die im Schwebezustand lebt zwischen Befreiung und Verantwortung, zwischen der Euphorie ihres bevorstehenden künstlerischen Durchbruchs und der Schwere einer ungeplanten Schwangerschaft. Sie ist der freie Geist, die leuchtende Figur, die dennoch an den eigenen Entscheidungen und Erwartungen rüttelt.
Der Vater Adam thront wie ein selbstverliebter König in seinem Reich am Meer – charmant, weltfremd, manchmal verletzend, oft blind für die Realitäten seiner Kinder. Um ihn herum bewegen sich Jenny, Kens Frau, die versucht, die Fassade der perfekten Familie zu wahren, und Steph, eine Außenstehende, die als geheimnisvolle Beobachterin die Bühne betritt und den Lesenden einen frischen, unbefangenen Blick auf die Dynamik dieser Familie ermöglicht.
Und dann sind da die Geheimnisse – jene Schatten, die jede große Familiensaga begleiten. Brodeur spielt geschickt mit der Spannung, enthüllt Stück für Stück, was unter der Oberfläche schlummert, und führt uns vor Augen, wie sehr sich Lebenswege aus der Vergangenheit speisen. Die Enthüllungen sind schmerzhaft, manchmal absehbar, aber gerade in ihrer Unausweichlichkeit liegt die Kraft: Sie erinnern uns daran, dass Familiengeheimnisse nie nur Staub vergangener Zeiten sind, sondern Fäden, die sich unmerklich durch die Gegenwart ziehen.
Mit leichter Hand verwebt die Autorin Momente voller Humor – etwa in Kens scharfzüngigen Dialogen – mit Passagen, die in stiller Schönheit leuchten: Spaziergänge entlang der Dünen, das Spiel von Licht und Wasser, die unaufdringliche Gegenwart des Hundes Frida, der als stiller Begleiter eine fast tröstliche Konstante bildet. Gerade diese Naturbilder sind es, die Cape Cod nicht bloß zur Kulisse machen, sondern zu einer eigenen Figur: wechselhaft, widersprüchlich, berauschend.
„Das Sommerfest“ ist mehr als eine Familiengeschichte. Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden in jedem Alter. Über die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und das Bedürfnis, sich zugleich davon zu lösen. Über die Frage, wer wir sein wollen – als Tochter, als Sohn, als Eltern, als Partner. Brodeur schreibt mit einer Eleganz, die an Liane Moriarty erinnert, mit einer emotionalen Tiefe, die Fans von Miranda Cowley Hellers „Der Papierpalast“ sofort in den Bann zieht.
Und so liest sich dieses Buch wie ein rauschendes Sommerfest selbst: beschwingt, heiter, voller Lachen und funkelnder Momente – bis plötzlich das Licht flackert, die Musik stockt und sich offenbart, dass hinter jedem Lächeln ein Schmerz verborgen sein kann. Dass jede Familie, so makellos sie von außen wirkt, ihre eigenen Schatten trägt.
Adrienne Brodeur gelingt ein mitreißendes, atmosphärisches Porträt einer Familie, die sich zwischen Liebe und Rivalität, zwischen Nähe und Distanz neu erfinden muss. Ein Roman, der uns die Unausweichlichkeit von Wahrheit und Veränderung spüren lässt – und uns dabei doch den Glauben schenkt, dass selbst inmitten von Konflikten ein Funke Hoffnung lodert.
Ein Buch wie ein Sommersturm: packend, aufwühlend, klärend. Wer sich von „Der Papierpalast“ hat verzaubern lassen, wird auch hier das Gefühl haben, nach der letzten Seite noch lange am Ufer von Cape Cod stehen zu bleiben – mit salziger Luft auf den Lippen, erfüllt von Wehmut und Begeisterung.
- Herausgeber : Rowohlt Taschenbuch
- Erscheinungstermin : 15. Juli 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 464 Seiten
- ISBN-10 : 3499013487
- ISBN-13 : 978-3499013485
- Originaltitel : Little Monsters
- Abmessungen : 12.4 x 2.79 x 18.9 cm
- 14 Euro