/ September 4, 2025/ Buch

Manchmal begegnet uns ein Buch, das uns so tief berührt, dass wir das Gefühl haben, es sei nicht nur gelesen, sondern miterlebt. Susanne Abels Roman „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ ist genau so ein Werk: ein literarischer Sog, der Herz und Verstand gleichermaßen erfasst und uns noch lange nicht loslässt, wenn wir das letzte Kapitel längst hinter uns haben. Dieses Buch ist kein einfacher Roman – es ist ein Stück Menschheitsgeschichte, ein Echo der Vergangenheit, ein Versprechen an die Zukunft.

Im Zentrum steht ein kleiner Junge, der am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Trümmern Deutschlands gefunden wird. Ohne Namen, ohne Herkunft, ohne Erinnerung. Man gibt ihm eine neue Identität: Hartmut. Doch wer ist er wirklich? Und wie lebt man, wenn man niemand ist? Seine Geschichte beginnt in einem katholischen Kinderheim, wo Strenge und Gehorsam die Regeln bestimmen, wo Nähe eine rare Kostbarkeit ist. Hier lernt er Margret kennen, ein älteres Mädchen, das selbst alles verloren hat. Sie nennt ihn Hardy, nimmt ihn an die Hand, schützt ihn, wo sie kann. In dieser feindseligen Welt wird sie zu seinem Halt, zu seiner Rettung – und er zu ihrer.

Schon auf den ersten Seiten spürt man die ungeheure Intensität dieser Verbindung. Susanne Abel versteht es meisterhaft, aus kleinen Szenen ganze Welten zu erschaffen. Ein fester Griff, ein unausgesprochenes Versprechen, ein Blick im Winterdunkel – das alles genügt, um die Wucht der Gefühle spürbar zu machen. Der Titel selbst, „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“, ist ein Symbol für das, worum es in diesem Roman geht: um Halt in einer haltlosen Welt, um das Überleben durch Nähe, um die Kraft einer Liebe, die allen Widrigkeiten trotzt.

Doch Abels Erzählung beschränkt sich nicht auf die Nachkriegszeit. Sie schlägt einen großen Bogen, der bis in die Gegenwart reicht. Wir lernen Emily kennen, die Urenkelin von Hardy und Margret. Sie wächst bei ihren Urgroßeltern auf, weil ihre Mutter zu unstet durchs Leben geht. Und obwohl Emily Geborgenheit findet, spürt sie doch das Schweigen, das wie eine unsichtbare Mauer zwischen den Generationen steht. Irgendwann kann sie die Fragen nicht mehr verdrängen – und beginnt, in der Vergangenheit zu graben. Damit setzt sie einen Prozess in Gang, der nicht nur Antworten bringt, sondern auch alte Wunden berührt und vielleicht endlich heilen lässt.

Abel gelingt es, das Grauen und die Härte der Nachkriegszeit mit feinem Gespür zu schildern, ohne ihre Figuren je in Hoffnungslosigkeit versinken zu lassen. Ihre Sprache ist klar, lebendig, bildstark – und dennoch durchzogen von einer Zärtlichkeit, die jede Seite leuchten lässt. Sie findet sogar Raum für feinen Humor, dort, wo man ihn am wenigsten erwartet. Und genau darin liegt die Größe dieses Romans: Er zeigt, dass selbst im tiefsten Elend Wärme und Menschlichkeit keimen können.

Die Liebesgeschichte von Hardy und Margret ist keine einfache, keine romantisierte. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die einander halten, weil sie sonst untergehen würden. Und genau dadurch entsteht etwas Erhabenes, etwas wahrhaft Großes. Diese Liebe ist ein Bollwerk gegen die Schrecken der Vergangenheit, sie ist Rettungsanker und Versprechen zugleich.

Gleichzeitig macht das Buch eindrücklich klar, dass Traumata nicht an einer Generation Halt machen. Sie setzen sich fort, wirken nach, prägen die Kinder und Kindeskinder. Abel zeigt dies am Beispiel von Emily mit einer psychologischen Tiefe, die einen erschüttert – und die zugleich Hoffnung schenkt. Denn das Schweigen kann gebrochen werden, das Erbe des Schmerzes kann verwandelt werden, wenn man den Mut hat, hinzuschauen.

„Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ ist ein Roman, der uns nicht nur an die Geschichte erinnert, sondern auch an die Verantwortung, die wir gegenüber der Zukunft tragen. Er erzählt davon, dass Liebe ein Überlebensmittel ist, stärker als alle Gewalt. Er erinnert uns daran, dass jeder Mensch ein Zuhause braucht – und dass dieses Zuhause manchmal in einer Hand liegt, die uns hält.

Dieses Buch ist ein Geschenk: bewegend, erschütternd, tröstlich. Es ist ein literarisches Meisterstück, das den Leser*innen Gänsehaut, Tränen und unvergessliche Lesemomente schenkt. Ein Werk, das zeigt, wie groß Literatur sein kann, wenn sie es wagt, Herz und Geschichte zugleich zu erzählen.

Ein bewegender Familienroman, ein zeitgeschichtliches Epos, eine Hymne auf die Kraft der Liebe – Susanne Abels neues Werk ist all das und noch mehr. Wer es liest, wird es nie wieder vergessen.

  • Herausgeber ‏ : ‎ dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 14. August 2025
  • Auflage ‏ : ‎ 2.
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 544 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3423283920
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3423283922
  • Abmessungen ‏ : ‎ 14.5 x 4 x 21.7 cm
  • 24 Euro

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