
Reisen und Literatur – das gehört schon immer zusammen. Kaum jemand setzt sich in einen Zug, ohne dass plötzlich Geschichten auftauchen. Genau das passiert auch bei Anne Serre. In Einer reist mit nimmt sie uns mit auf eine scheinbar ganz banale Fahrt im TGV Richtung Montauban. Erste Klasse, alles schick, und eigentlich könnte es eine ruhige Fahrt werden. Aber Serre wäre nicht Serre, wenn es dabei bleiben würde.
Schon auf den ersten Seiten ist klar: Die Autorin ist nicht einfach eine stille Beobachterin. Kaum fährt der Zug an, platzen Gespräche, Begegnungen und Erinnerungen in ihre Gedankenwelt. Da mischt sich das Bordpersonal mit Astrologen, die munter plaudern, und plötzlich sind auch private Familiengeschichten wieder da – ausgelöst durch einen Halt an irgendeinem Provinzbahnhof, an dem sich mal ihr Leben verzweigt hat. Reisen wird hier nicht als Ortswechsel erzählt, sondern als innerer Trip: ein permanentes Hin und Her zwischen Gegenwart, Vergangenheit und einer Fantasie, die manchmal alles verschluckt.
Realität trifft auf Fiktion
Besonders charmant: Serre spielt hemmungslos mit der Grenze zwischen dem, was wirklich passiert, und dem, was sie sich einbildet. Mitten in der Zugfahrt taucht Enrique Vila-Matas auf – ein spanischer Autor, den sie verehrt, aber eigentlich gar nicht kennt. Sitzt er nun wirklich schräg gegenüber, den Hut tief ins Gesicht gezogen? Oder hat er ein Hotelzimmer neben dem ihren gebucht und kommuniziert mit geheimnisvollen Klopfzeichen durch die Wand? Oder ist er schlicht eine Projektion, eine Art literarischer Geist, der plötzlich die Kontrolle übernimmt? Man weiß es nicht – und genau das macht den Reiz aus.
Leichtigkeit mit Tiefgang
Auch wenn das Ganze locker und verspielt wirkt, steckt viel mehr dahinter. Der Text jongliert mit Erinnerungen an Verluste, an Wendepunkte, an schmerzhafte Augenblicke – aber nie schwer oder larmoyant. Es ist dieses typische Serre-Gefühl: federleicht geschrieben, mit einem fast schwebenden Ton, der aber immer wieder kleine Stiche setzt. Man liest und merkt: Hinter dem augenzwinkernden Surrealismus steckt echte Melancholie.
Warum das Buch besonders ist:
- Spielerisch-surreal: Die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmt – wie ein literarischer Traum im Zugabteil.
- Reise als Metapher: Es geht nicht um Kilometer, sondern um innere Wege, Erinnerungen und Umwege des Lebens.
- Literarische Gesellschaft: Tote, lebendige und eingebildete Kollegen huschen durchs Abteil, tanzen um die Erzählerin herum – und machen die Fahrt zu einem fast magischen Erlebnis.
- Kurzweilig und tiefgründig zugleich: Die Sprache ist leicht, fast beschwingt, aber sie öffnet Räume voller Sehnsucht und Schmerz.
Für wen ist das was?
Für alle, die Lust auf Literatur haben, die nicht brav der Geraden folgt, sondern mäandert. Für Leute, die Spaß daran haben, wenn Realität plötzlich kippt und man nicht mehr weiß: Träumt die Erzählerin, erinnert sie sich oder passiert das gerade wirklich? Und für alle, die Autorinnen mögen, die elegant zwischen Ernst und Ironie wechseln, ohne dass es gekünstelt wirkt.
Mein Fazit:
Einer reist mit ist kein Roman, den man einfach mal eben so wegliest. Es ist mehr wie eine Zugfahrt, bei der man ständig aus dem Fenster guckt, dann wieder ins Abteil, dann ins eigene Innenleben. Serre zeigt, wie eng Erinnerung, Fantasie und Gegenwart verflochten sind – und dass man auf Reisen immer mehr mitnimmt, als man geplant hat. Leicht, verspielt, manchmal rätselhaft und immer wieder überraschend: Dieses Buch ist ein kleiner literarischer Zaubertrick.
Wer Lust auf ein ungewöhnliches, poetisch-verspieltes Leseerlebnis hat, sollte einsteigen – und sich einfach mitnehmen lassen. Denn bei Serre gilt: Man reist nie allein, immer reist noch jemand mit – ob real, erinnert oder erfunden.
Einer reist mit ist ein poetisch-verspielter Roman, der Zugfahrt, Erinnerung und Fantasie kunstvoll miteinander verwebt. Anne Serre schreibt leichtfüßig und zugleich tiefgründig, lässt Realität und Imagination verschwimmen und macht das Lesen zu einer kleinen Reise für den Kopf. Überraschend, elegant, melancholisch und trotzdem federleicht – ein echtes Leseerlebnis!
- Herausgeber : Berenberg Verlag GmbH
- Erscheinungstermin : 11. August 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 144 Seiten
- ISBN-10 : 3911327048
- ISBN-13 : 978-3911327046
- Originaltitel : Voyage avec Vila-Matas
- Abmessungen : 13.2 x 1.3 x 19.7 cm
- 24 Euro