/ Juli 3, 2025/ Buch

Ein mutiges, bewegendes und notwendiges Buch – Liz Wieskerstrauch macht das Unsagbare begreifbar

Liz Wieskerstrauchs „Geteilte Persönlichkeiten“ ist ein Buch, das aufrüttelt, bewegt und aufklärt. Es ist kein einfacher Ratgeber, kein oberflächliches True-Crime-Schmökern, sondern eine zutiefst respektvolle, fundierte und dringliche Annäherung an eines der komplexesten und umstrittensten psychischen Phänomene: die Dissoziative Identitätsstörung (DIS).

Schon der Untertitel – „zwischen Trauma und Verleugnung“ – ist Programm. Denn hier geht es nicht nur um klinische Fakten oder psychiatrische Diagnosen, sondern auch um das gesellschaftliche und wissenschaftliche Ringen um die Anerkennung einer Störung, die viel zu lange geleugnet, verzerrt oder sensationalisiert wurde.

Liz Wieskerstrauch ist keine Unbekannte. Als Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin hat sie sich über Jahre intensiv mit den Abgründen menschlicher Erfahrung beschäftigt. Ihre Handschrift ist dabei unverwechselbar: Sie erzählt nicht distanziert von außen, sondern hört genau hin, gibt Betroffenen Raum, bringt Empathie und Klarheit zusammen. Genau das macht dieses Buch so besonders und wertvoll.

Wie überlebt eine Seele das Unvorstellbare?

Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk. Wieskerstrauch beantwortet sie nicht mit platten Formeln, sondern mit Ernsthaftigkeit und Demut. Sie beschreibt, wie extreme, meist sexualisierte Gewalt in früher Kindheit eine Überlebensstrategie hervorbringen kann, die zugleich Schutzschild und Stigma ist: die Aufspaltung der Persönlichkeit in verschiedene Identitätszustände.

Mit großer Sorgfalt erklärt sie, wie dieses Phänomen funktioniert: nicht als Hollywood-Klischee mit „bösen“ und „guten“ Persönlichkeiten, sondern als vielschichtige, oft tragische Anpassungsleistung eines kindlichen Gehirns, das sonst zerbrechen würde. Dabei gelingt es ihr, auch komplexe psychologische Konzepte so darzustellen, dass sie verständlich und nachvollziehbar werden – ohne je die Tiefe oder Komplexität zu verlieren.

Fallbeispiele, die unter die Haut gehen

Besonders eindrucksvoll sind die authentischen Berichte von Betroffenen. Wieskerstrauch hat mit Menschen gesprochen, die mit DIS leben – und lässt ihre Stimmen eindringlich zu Wort kommen. Diese Fallbeispiele sind keine Sensationsgeschichten, sondern Einblicke in reale Schicksale: zerrissene Biografien, jahrelange Therapien, ständiges Ringen um ein stabiles Leben, aber auch Mut und Überlebenswille.

Beim Lesen spürt man immer wieder Beklemmung, Wut und Trauer – vor allem angesichts des Leids, das den Betroffenen meist in allerfrühester Kindheit angetan wurde. Aber ebenso spürt man Respekt und Staunen über ihre Kraft. Wieskerstrauch schafft es, diesen Menschen Würde und Gehör zu verschaffen, statt sie zu pathologisieren oder zu Opfern zu degradieren.

Fakten, die überzeugen

Neben den persönlichen Geschichten liefert das Buch auch geballtes Fachwissen – sorgfältig recherchiert, klar aufbereitet und immer auf dem aktuellen Stand. Wieskerstrauch hat mit Expertinnen und Experten gesprochen, Studien gesichtet und die Debatten in Psychiatrie und Psychotherapie nachvollzogen.

Dabei spart sie die Kontroversen nicht aus: die Skepsis vieler Kliniker:innen, die Angst vor Suggestion in der Therapie, die Frage nach False Memories. Sie verschweigt nicht, wie oft DIS infrage gestellt oder als „Modekrankheit“ diffamiert wurde – und erklärt gleichzeitig, warum diese Verleugnung so fatal ist. Gerade dieser Teil ist von unschätzbarem Wert, weil er zeigt: Es geht hier nicht nur um einzelne Patient:innen, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, hinzusehen statt wegzuschauen.

Sprachlich einfühlsam und fesselnd

Wieskerstrauchs Stil ist dabei etwas ganz Besonderes. Sie schreibt sachlich und präzise, aber mit großer Wärme. Man merkt in jeder Zeile, dass sie um die Sensibilität des Themas weiß und sich ihrer Verantwortung bewusst ist. Die Sprache ist klar und zugänglich, ohne jemals zu banalisieren oder effektheischend zu sein. Man liest gebannt, oft erschüttert, aber immer in dem Gefühl, dass hier eine Autorin mit großer Integrität und Empathie am Werk ist.

Ein Buch zur richtigen Zeit

Besonders hervorzuheben ist auch die Einbettung in unsere Gegenwart. Die Autorin macht klar, dass die Diskussion um die DIS keine rein akademische Frage ist, sondern etwas mit unserem Umgang mit Trauma, Gewalt und psychischer Gesundheit insgesamt zu tun hat. In einer Zeit, in der immer mehr über Missbrauch, Kinderschutz und Trauma gesprochen wird, liefert „Geteilte Persönlichkeiten“ einen unverzichtbaren Beitrag – einen Appell zum Hinschauen und Verstehen.

Wer sich für das Thema interessiert – sei es beruflich als Psycholog:in, Pädagog:in, Therapeut:in oder privat als Mensch, der verstehen will – wird in diesem Buch nicht nur Wissen finden, sondern auch eine tiefe menschliche Dimension.

Fazit: Ein Muss für alle, die verstehen wollen

„Geteilte Persönlichkeiten“ ist ein mutiges, eindringliches und berührendes Buch. Es verbindet fundierte Wissenschaft mit echter Menschlichkeit, klärt auf ohne zu verharmlosen und macht betroffen ohne zu lähmen. Liz Wieskerstrauch hat ein Werk geschaffen, das Betroffenen eine Stimme gibt, Mythen entlarvt und uns alle auffordert, endlich genauer hinzusehen.

Ein Buch, das lange nachwirkt. Und eines, das man nicht nur lesen, sondern immer wieder zur Hand nehmen und weiterempfehlen sollte.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Nomos
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 9. Mai 2025
  • Auflage ‏ : ‎ 1.
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 312 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3756023931
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3756023936
  • Abmessungen ‏ : ‎ 15.5 x 3 x 21.5 cm
  • 29,90 Euro

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*
*