/ September 1, 2025/ Buch

Es gibt Geschichten, die beginnen nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem stillen Bruch – einem Bruch im Herzen, der alles verändert. So beginnt auch die Reise von Gaia, einer jungen Frau, die in der Liebe das Licht gefunden hatte – und es nun verliert. Verlassen von Veronica, jener Frau, die ihre große Liebe war, bleibt Gaia zurück in einer Welt, die ihr plötzlich fremd erscheint. Alles, was vorher Halt gab, verliert seine Farbe, und das, was einmal vertraut war, drückt nun schwer auf ihre Seele.

Veronica war für Gaia nicht nur eine Geliebte. Sie war Freiheit. Sie war die Brücke hinaus aus dem engen Kosmos der wohlhabenden Eltern, die zwischen Münchner Villenleben und italienischer Tradition ein Festmahl nach dem anderen zelebrieren, als wären die Tische selbst ein Stück Heimat. Die langen Mittagessen, das Fleisch vom Viktualienmarkt, die geladenen Herren aus gutem Hause – all das war wie ein goldener Käfig, aus dem Gaia dank Veronica endlich zu entkommen schien.

Doch nun, da diese Liebe zerbrochen ist, fühlt sie die Gitter enger denn je. Wer ist sie noch ohne Veronica? Wer darf sie sein? Wer kann sie werden? Die Sehnsucht nach der Leichtigkeit der verlorenen Geliebten wächst von Tag zu Tag, wie eine Melodie, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. In dieser Sehnsucht liegt ein Hunger, ein Drang, so zu sein wie jene Frau, die sie einst hielt und nun gehen ließ.

Und so beginnt Gaia ein Spiel, das gleichermaßen Verwandlung wie Verzweiflung ist. Sie rasiert sich die Haare ab, setzt eine Perücke auf – als könnte sie damit in Veronicas Haut schlüpfen, als könnte sie deren unbeschwerte Art durch Nachahmung heraufbeschwören. Sie verkauft die Erbstücke, die sie an eine Vergangenheit ketten, und ersetzt sie durch billigen Modeschmuck – Glitzer statt Geschichte, Schein statt Gewicht. Jede Entscheidung, jeder Schritt ist ein Versuch, dem eigenen Schmerz zu entkommen, und doch gräbt sie sich tiefer hinein.

Als Gaia erfährt, dass Veronica einen Mann heiraten wird, reißt der Schmerz neue Wunden. In einem verzweifelten Versuch, ihr eigenes Schicksal in eine andere Richtung zu lenken, zwingt sie sich, einem alten Verehrer Aufmerksamkeit zu schenken. Aber was bedeutet Nähe, wenn sie nicht von Liebe getragen ist? Was bedeutet Identität, wenn sie im Schatten einer anderen erprobt wird?

Die Autorin Maddalena Fingerle zeichnet ein Bild, das in seiner Zartheit und seiner Wildheit zugleich fesselt. Gaia schwankt zwischen Impulsivität und Wut, zwischen obsessiver Sehnsucht und ironischem Abstand. Mal wirft sie sich kopfüber in den Strudel ihrer Gefühle, mal blickt sie mit scharfem Witz auf das Theater, das ihr Leben geworden ist. Und in dieser Mischung liegt ein Zauber, der jede Seite durchdringt: das Porträt einer jungen Frau, die sucht – nach sich selbst, nach Freiheit, nach einer Wahrheit, die jenseits der Rollen liegt, die andere für sie vorgesehen haben.

„Mit deinen Augen“ ist ein Roman voller Kontraste. Er ist leidenschaftlich und melancholisch, zugleich leichtfüßig und schwer wie ein Stein im Herzen. Er erzählt vom Mut, sich in der Liebe zu verlieren, und von der Notwendigkeit, sich in der Liebe zu finden. Fingerle zeigt uns, dass Identität kein starres Gebilde ist, sondern ein Tanz – manchmal taumelnd, manchmal kraftvoll, immer gefährlich schön.

Die Sprache dieses Buches ist wie ein Spiegelbild von Gaias Innenwelt: poetisch, vibrierend, manchmal roh, dann wieder zart wie ein flüchtiger Kuss. Zwischen den Zeilen lodert das Verlangen, nicht nur gesehen, sondern verstanden zu werden. Und immer wieder ist da diese Frage: Wer bin ich, wenn ich aufhöre, die Erwartungen der anderen zu erfüllen? Wer bin ich, wenn ich endlich nur noch ich selbst sein darf?

So liest sich „Mit deinen Augen“ wie eine Liebesgeschichte und zugleich wie eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Es ist die Chronik eines Herzens, das zerbricht und neu zusammengesetzt wird – nicht identisch, nicht glatt, sondern schillernd in seinen Rissen.

Wer dieses Buch aufschlägt, wird hineingezogen in Gaias Welt, in ihre Sehnsucht, ihre Verwandlung, ihre Kämpfe und ihr Aufbegehren. Man leidet mit, man lächelt mit, man hofft mit – und man erkennt vielleicht ein Stück von sich selbst in ihrer Suche. Denn wer hat nicht schon einmal versucht, in den Augen eines anderen sich selbst zu erkennen?

Am Ende bleibt „Mit deinen Augen“ mehr als eine Geschichte über eine gescheiterte Liebe. Es ist ein romantisches, tiefes und zugleich ironisch funkelndes Porträt einer Frau, die zeigt, dass man sich verlieren kann – um sich neu zu finden.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Luchterhand Literaturverlag
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 27. August 2025
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3630877982
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3630877983
  • Originaltitel ‏ : ‎ PUDORE
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.4 x 2.1 x 19.3 cm
  • 22 Euro

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