/ Oktober 30, 2023/ Buch

Plinio Martini


Das Lesen dieses außergewöhnlichen Buches über das Tessin vor dem Zweiten Weltkrieg ist wie eine faszinierende Reise in ein bisher unbekanntes Land. Bisher kannte ich das Tessin nur als beliebtes Urlaubsziel und als Rückzugsort für Wohlhabende, wo die Sonne oft scheint und exzellentes Essen und erstklassige Weine genossen werden können. Doch dieses Buch eröffnet eine völlig neue Perspektive, indem es die Lebensrealität der Talbewohner und Bergbauern zeigt, die oft knapp über die Runden kommen und mit schwerer Arbeit und Tod konfrontiert sind.

Die Geschichte von Gori, die Plinio Martini erzählt, ist ein Spiegelbild der zwanziger Jahre im Tessin während der großen Weltwirtschaftskrise. Der Hunger, die Armut und die omnipräsente Todesgefahr treiben Gori dazu, nach Amerika auszuwandern. Doch auch dort erwartet ihn nur ein entbehrungsreiches Leben als Kuhhirt auf einer abgelegenen Farm, weitab von der Zivilisation. Hier gibt es keine Aussicht auf schnellen Reichtum oder triumphale Heimkehr ins Tal als wohlhabender Mann.

Ironischerweise hätte Gori ein gutes Leben im armen Maggiatal haben können. Maddalena, die Tochter einer wohlhabenden Familie, hat sich schon früh in ihn verliebt. Doch als sie sich nach Jahren des Annäherns und sanften Werbens ihre Liebe gestehen und ihm klarmachen möchte, dass sie ihn heiraten und eine Familie mit ihm gründen will, ist sein Antrag auf Auswanderung bereits unterwegs zu den Behörden. Selbst Maddalenas Angebot, dass er in der Firma ihres Vaters eine sichere Position und Wohlstand finden könnte, kann seinen Stolz und seine Ehre nicht überzeugen. Trotz seiner tiefen Liebe entscheidet er sich zu gehen, eine Entscheidung, die er sein Leben lang bereuen wird. Schon bald nach seiner Ankunft in Amerika erreicht ihn die Nachricht vom plötzlichen Tod Maddalenas.

Plinio Martini lässt Gori seine Geschichte im Rückblick erzählen, als er 1949 nach 20 Jahren in Kalifornien krank vor Heimweh in sein geliebtes Tal zurückkehrt. Doch bei seiner Rückkehr ist nicht nur Gori verändert, sondern auch alles, was er einst kannte, ist vorbei oder verschwunden. Seine Mutter ist behindert, sein Vater alt und zerbrechlich, und sogar seine geliebten Berge erscheinen ihm erdrückend. Obwohl er in der Fremde zu bescheidenem Wohlstand gelangt ist, wird ihm mit jedem Tag in der alten Heimat, jeder Begegnung mit der Geschichte der Verstorbenen und jedem Gespräch mit alten Freunden klar, dass er sein Glück geopfert hat. Dieser Verlust begann mit seiner Weigerung, Maddalenas Bitte zu erfüllen und seine Auswanderungsbewerbung zurückzuziehen.

„Nicht Anfang und nicht Ende“ ist ein ergreifendes und leidenschaftliches Buch. Der Autor, Plinio Martini, wurde zu Unrecht über Jahrzehnte hinweg übersehen, ähnlich wie die Menschen, über die er schreibt, und das geliebte Land, an dem er litt. Das Buch wirkt wie ein einziger Schrei der Wut, in dem Plinio Martini all die schmerzlichen Erfahrungen und Begegnungen mit den Menschen seiner Heimat, die er jahrelang als Volksschullehrer gemacht hat, in seinem ersten Roman verdichtet und ausdrückt.

Es handelt sich um ein eindrucksvolles Buch eines lange unbeachteten Autors. Dem Limmat Verlag gebührt Dank dafür, dass er mit der Veröffentlichung der Werke von Martini diesem Zustand ein Ende gesetzt hat.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Limmat; Neuauflage zum 100. Geburtstag (24. Juli 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 240 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 9783857914959
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3857914959
  • Originaltitel ‏ : ‎ Il fondo del sacco
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.1 x 2.7 x 19.7 cm

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