
Wenn man den Namen Franz Kafka hört, denken viele sofort an düstere Geschichten, an labyrinthische Behörden oder an Menschen, die sich in Käfer verwandeln. Kurz: an Schwere, Enge, an das Gefühl, gefangen zu sein. Matthias Bormuth gelingt es mit Trapezkünstler: Der Fall Kafka, dieses Bild einmal kräftig durchzuschütteln und neu zu ordnen. Und zwar so, dass man am Ende das Gefühl hat: Kafka war nicht nur ein Melancholiker, sondern auch jemand, der mitten im Leid eine Art Befreiung gefunden hat.
Bormuth schreibt über Kafka nicht wie ein trockener Literaturwissenschaftler, der nur analysiert, sondern wie jemand, der den Menschen hinter den Büchern sichtbar machen will. Und das gelingt ihm grandios. Er stellt die Krankheit – Kafkas Lungentuberkulose – nicht nur als Schicksalsschlag dar, sondern als eine Art Wendepunkt. Die Krankheit hat Kafka zwar geschwächt und letztlich das Leben gekostet, aber sie hat ihm auch Türen geöffnet: raus aus dem ungeliebten Bürojob, raus aus einer Verlobung, die mehr Ballast als Liebe war, und raus aus der erdrückenden Macht des Vaters.
Plötzlich entsteht ein Bild von Kafka, das viel freier und lebendiger ist, als man es gewohnt ist. Er hatte endlich die Möglichkeit, sich auf sein Schreiben zu konzentrieren, auf das, was ihm wirklich wichtig war. Und er hatte Raum, um Menschen zu begegnen, die ihm guttaten – allen voran Dora Diamant, die Frau, mit der er in seinen letzten Lebensjahren eine große Nähe und Zärtlichkeit erlebte.
Die Stärke von Bormuths Blick
Was dieses Buch besonders macht: Matthias Bormuth ist nicht nur Philosoph, sondern war vorher Arzt in einer psychiatrischen Klinik. Er kennt also beide Seiten – die medizinische und die existenzielle. Diese Mischung spürt man auf jeder Seite. Er versteht es, Krankheit nicht nur biologisch zu beschreiben, sondern sie auch in ihrer Bedeutung für das Leben, für Entscheidungen, für Freiheit sichtbar zu machen.
Bei Kafka zeigt er das sehr eindrücklich: Krankheit ist nicht nur Einschränkung, sie kann auch eine Chance sein, das Leben neu zu denken. Genau darin liegt der große Reiz dieses Buches. Es geht nicht darum, die Tragik wegzureden, sondern darum, zu erkennen, wie im Leiden auch eine Art von Freiheit entstehen kann.
Der „Trapezkünstler“
Der Titel ist übrigens großartig gewählt. Kafka selbst beschrieb sich einmal als jemand, der wie ein Trapezkünstler zwischen Himmel und Erde hängt – verletzlich, aber auch frei, irgendwo zwischen Sicherheit und Abgrund. Dieses Bild greift Bormuth auf und spinnt es weiter: Er zeigt Kafka als Menschen, der immer in Balance bleiben musste, zwischen den Erwartungen von außen und dem inneren Drang zu schreiben, zwischen Krankheit und Schaffenskraft, zwischen Nähe und Rückzug.
Spannend geschrieben – auch für Nicht-Experten
Besonders schön ist, dass man dieses Buch auch genießen kann, wenn man kein Kafka-Experte ist. Bormuth schreibt klar, anschaulich, mit vielen Beispielen und biografischen Details, die einen sofort hineinziehen. Man hat nicht das Gefühl, durch ein trockenes Fachbuch zu stolpern, sondern eher durch eine sehr lebendige Erzählung, die Lust macht, Kafka noch einmal ganz neu zu lesen.
Man erfährt, wie Kafka sein Leben Schritt für Schritt veränderte, wie er mehr zu sich selbst fand – nicht trotz, sondern gerade wegen der Krankheit. Das macht ihn unglaublich menschlich und nahbar. Man erkennt in ihm plötzlich jemanden, der die gleichen Fragen hatte wie wir: Was ist wichtig im Leben? Was will ich wirklich? Was hindert mich daran, frei zu sein?
Ein Buch, das Hoffnung schenkt
So schwer das Thema klingt – es bleibt nicht düster. Im Gegenteil: Bormuth zeigt, dass selbst im Angesicht von Krankheit, Begrenzung und Tod Momente von Freiheit und Glück möglich sind. Das ist eine Botschaft, die unglaublich gut tut. Man liest über Kafka, und gleichzeitig denkt man automatisch über das eigene Leben nach. Wo fühle ich mich gefangen? Was könnte ich loslassen? Welche Chancen stecken vielleicht sogar in meinen eigenen Schwierigkeiten?
Fazit
Trapezkünstler: Der Fall Kafka ist kein Buch, das Kafka auf einen Sockel stellt. Es ist ein Buch, das ihn vom Sockel herunterholt und uns den Menschen zeigt – verletzlich, suchend, mutig und frei. Matthias Bormuth verbindet Philosophie, Medizin und Literatur zu einem spannenden, inspirierenden Blick auf einen der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Wer Kafka liebt, wird dieses Buch verschlingen. Wer bisher dachte, Kafka sei nur schwer und deprimierend, wird überrascht sein. Und wer sich für die Frage interessiert, wie Krankheit, Freiheit und Sinn zusammenhängen, findet hier eine Lektüre, die noch lange nachwirkt.
Kurz gesagt: Dieses Buch ist wie ein Balanceakt auf dem Trapez – aufregend, bewegend und voller neuer Perspektiven.
- Herausgeber : Berenberg Verlag GmbH
- Erscheinungstermin : 12. November 2024
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 88 Seiten
- ISBN-10 : 3949203931
- ISBN-13 : 978-3949203930
- Abmessungen : 12.4 x 18.6 x 1.4 cm
- 24 Euro