
Das Buch Zeiten ohne Wende von Christian Schweppe ist eine schonungslose Langzeitreportage über die Realität hinter der sogenannten „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 im Bundestag angekündigt hatte. Diese „Zeitenwende“ sollte einen Paradigmenwechsel für Deutschland einleiten, insbesondere im Umgang mit Sicherheitspolitik, Verteidigung und der Modernisierung der Bundeswehr. Doch Schweppes Recherchen zeigen: Zwischen großen Worten und tatsächlichem Fortschritt klafft eine erschreckend große Lücke.
Ein Blick hinter die Kulissen
Christian Schweppe, Journalist und investigativer Reporter, hat über zwei Jahre hinweg intensiv recherchiert, um herauszufinden, was aus den Versprechen des Kanzlers geworden ist. Er hat Ministerien, Militärstützpunkte und geheime Ausschüsse besucht, mit Politikern, Soldaten und Rüstungsexperten gesprochen und einen tiefen Einblick in die deutsche Verteidigungspolitik gewonnen. Schweppe beleuchtet dabei nicht nur die politischen Akteure, sondern auch die Rüstungsindustrie, die seit Scholz’ Ankündigung milliardenschwere Aufträge wittert.
Seine Reisen führen ihn in Munitionslager, verlassene Militärflugplätze und sogar in den Verteidigungsausschuss des Bundestags. Er spricht mit ranghohen Generälen, einfachen Soldaten und Politikerinnen wie Christine Lambrecht, der ehemaligen Verteidigungsministerin, deren Karriere schließlich scheiterte. Dabei deckt Schweppe auf, wie langsam, chaotisch und teils ineffizient die Maßnahmen umgesetzt werden, die Deutschland sicherer machen sollten.
Was ist schiefgelaufen?
Im Mittelpunkt steht die Frage: Warum ist Deutschland auch zweieinhalb Jahre nach der „Zeitenwende“-Ankündigung nicht ausreichend auf neue Bedrohungen vorbereitet? Schweppe zeigt, dass zwar milliardenschwere Budgets beschlossen wurden – darunter das berühmte 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr –, doch die praktische Umsetzung stockt.
Zu den zentralen Problemen gehören:
- Bürokratie und politische Trägheit: Entscheidungsprozesse ziehen sich oft über Monate hin. Genehmigungen, Ausschreibungen und Zuständigkeiten verlangsamen wichtige Projekte.
- Versäumnisse in der Rüstungsindustrie: Obwohl die Branche von neuen Aufträgen profitieren sollte, mangelt es an Koordination, Produktionskapazitäten und verlässlichen Lieferketten.
- Führungsprobleme in der Politik: Schweppe beschreibt eindringlich, wie eine fehlende klare Strategie und politische Uneinigkeit wertvolle Zeit vergeuden.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Zustand der Bundeswehr selbst. Trotz zahlreicher Ankündigungen und finanzieller Zusagen ist die Truppe weiterhin mit Ausrüstung konfrontiert, die veraltet oder gar nicht einsatzfähig ist. Munition fehlt, Flugzeuge sind am Boden gebunden, und viele Soldaten zweifeln an der Sinnhaftigkeit der Reformen.
Die Gegenspieler und das Polit-Drama
Schweppe schildert nicht nur die Herausforderungen, sondern auch die Konflikte zwischen den Akteuren: Olaf Scholz, der oft zögerlich und defensiv agiert, steht Persönlichkeiten wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann gegenüber, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses. Strack-Zimmermann, die sich zur treibenden Kraft einer schnelleren Modernisierung entwickelt hat, wird zur zentralen Figur im politischen Drama um die „Zeitenwende“.
Auch Christine Lambrecht, Scholz’ ehemalige Verteidigungsministerin, wird in Schweppes Buch beleuchtet. Ihre Amtszeit war geprägt von Skandalen und Fehlentscheidungen, die ihre Position immer weiter schwächten. Am Ende musste sie zurücktreten – ein Sinnbild für die vielen gescheiterten Ansätze, die in Schweppes Reportage dokumentiert werden.
Ein ernüchterndes Fazit
Am Ende zeichnet Schweppe ein bitteres Bild: Die Bundesrepublik ist trotz der großen Ankündigungen nicht wesentlich sicherer geworden. Die „Zeitenwende“ scheint verschlafen worden zu sein. Für den Ernstfall – sei es ein bewaffneter Konflikt oder eine andere Bedrohung – wäre Deutschland weiterhin schlecht gerüstet.
Warum lesen?
Zeiten ohne Wende ist mehr als nur ein Bericht über die Bundeswehr oder deutsche Verteidigungspolitik. Es ist ein Weckruf, der zeigt, wie gefährlich politische Untätigkeit und strukturelle Probleme sein können. Schweppes Buch richtet sich an Leserinnen und Leser, die sich für Politik, Sicherheit und die Zukunft Deutschlands interessieren. Es beleuchtet, wie komplex und gleichzeitig entscheidend die Herausforderungen der heutigen Zeit sind – und wie sehr unser Land in diesen Bereichen hinterherhinkt.
Die Sprache des Buches ist klar und prägnant, und Schweppe gelingt es, komplizierte Zusammenhänge verständlich zu machen. Seine Reportage vereint fundierte Recherchen mit spannenden Einblicken in die politischen und militärischen Machtstrukturen Deutschlands.
Dieses Buch ist nicht nur ein Dokument der Gegenwart, sondern auch eine Mahnung für die Zukunft: Ohne entschlossenes Handeln könnte Deutschland die geopolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre noch stärker zu spüren bekommen.
- Herausgeber : C.H.Beck; 2., durchgesehene Edition (29. November 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 351 Seiten
- ISBN-10 : 3406821774
- ISBN-13 : 978-3406821776
- Abmessungen : 14.7 x 3.1 x 21.9 cm
- 534 Gramm