/ Oktober 11, 2024/ Buch

von Bruno Chaouat und Christoph Hesse 

Das Buch „ST Theorie gut für die Juden? Das fatale Erbe französischen Denkens“ von Bruno Chaouat beschäftigt sich mit der Frage, wie moderne Theorien und intellektuelle Strömungen, insbesondere aus Frankreich, zum heutigen Antisemitismus beitragen. Es geht darum, wie sich das Bild der Juden in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und wie theoretische Diskurse aus der Nachkriegszeit bis heute dieses Bild beeinflusst haben.

Früher wurden Juden von Antisemiten oft als „wurzellose Kosmopoliten“ dargestellt – Menschen ohne feste Bindung an ein Land oder eine Kultur, die überall und nirgendwo zu Hause waren. Diese Vorstellung diente dazu, sie als Fremdkörper in den europäischen Nationen zu brandmarken. Heute hat sich dieses Bild umgekehrt: Juden werden zunehmend als zu stark mit ihrer Identität, ihrem Land (insbesondere Israel), ihrer Religion und ihrer Geschichte verwurzelt betrachtet. Dieser Wechsel im Antisemitismus führt dazu, dass Juden heute als eine Gruppe wahrgenommen werden, die den Fortschritt behindert, indem sie an traditionellen Werten und Identitäten festhält. Anstatt als „fremd“ oder „wurzellos“ angesehen zu werden, werden sie jetzt als „reaktionär“ abgestempelt, als eine Kraft, die Multikulturalismus und den Wandel in einer globalisierten Welt blockiert. In dieser Sichtweise werden Juden sogar als rassistisch dargestellt, weil sie ihre eigene nationale und kulturelle Identität betonen.

Bruno Chaouat beleuchtet, wie diese Vorstellungen in der intellektuellen Welt Fuß gefasst haben. Er analysiert die Entwicklung eines theoretischen Diskurses in der Nachkriegszeit, der sich mit Trauma, Erinnerung, der Opferrolle und dem Leiden beschäftigt, insbesondere im Zusammenhang mit dem Holocaust. Diese Themen haben eine zentrale Rolle im Nachdenken über Juden und ihre Geschichte in der Moderne gespielt. Doch Chaouat kritisiert, dass bestimmte Strömungen des französischen Denkens, vor allem die postkoloniale Theorie, zu kurz greifen, wenn es darum geht, den modernen Antisemitismus und den islamischen Terrorismus zu verstehen. Die postkoloniale Theorie, die vor allem kolonialen Unterdrückungsmechanismen nachspürt, sieht oft in den Juden und in Israel eher die „Unterdrücker“ als die Opfer, was laut Chaouat zu einer gefährlichen Verzerrung führt.

Ein wichtiger Punkt in Chaouats Analyse ist die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Philosophen Martin Heidegger, dessen Denken in Frankreich großen Einfluss hatte. Heidegger, der selbst während der NS-Zeit eine problematische Nähe zum Nationalsozialismus hatte, prägte intellektuelle Strömungen, die auch heute noch relevant sind. Chaouat zeigt, wie einige der von Heidegger inspirierten Ideen in der französischen Theorielandschaft einen indirekten Beitrag zur Entstehung neuer Formen des Antisemitismus geleistet haben. Diese Theorien, so Chaouat, vernachlässigen die spezifischen Erfahrungen der Juden und ihre historischen Traumata, indem sie sich zu stark auf universelle Opferkategorien konzentrieren und so die Besonderheit des jüdischen Leidens relativieren.

Das Buch stellt die provokative Frage, ob und inwiefern die intellektuelle Landschaft Frankreichs dazu beigetragen hat, dass antisemitische Tendenzen heute wieder erstarken. Chaouat kritisiert, dass wichtige Denker, insbesondere in postkolonialen und linken intellektuellen Kreisen, den modernen Judenhass nicht klar genug benennen und manchmal sogar indirekt fördern, indem sie Israel und die jüdische Gemeinschaft als reaktionär und hinderlich für den globalen Fortschritt darstellen.

Chaouats Untersuchung ist ein komplexer Rückblick auf die Art und Weise, wie bestimmte Denkschulen und Theorien den Antisemitismus auf subtile Weise weitertragen. Er fordert eine gründliche Neubewertung des intellektuellen Erbes, das in Frankreich, aber auch weltweit, den Diskurs über Judentum und Antisemitismus prägt. Indem er die Schwächen der postkolonialen Theorie aufzeigt, fordert Chaouat eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Antisemitismus in der heutigen Zeit.

  • Herausgeber ‏ : ‎ edition TIAMAT; 1. Edition (2. April 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 440 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3893203117
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3893203116
  • Originaltitel ‏ : ‎ Is Theorie Good for the Jews?
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.4 x 3.9 x 21.1 cm
  • 555 Gramm
  • 30 Euro

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