
Was für ein Roman! Yvonne Zitzmann hat mit Sind wir für alle Zeiten mit unseren Müttern verbunden? ein Werk geschaffen, das gleichermaßen erschüttert und beglückt, verstört und tröstet – und das in seiner sprachlichen Schönheit so sehr glänzt, dass man Seite um Seite verschlingen möchte. Hier verbinden sich Poesie, Menschlichkeit und eine unerschrockene Offenheit zu einer literarischen Erfahrung, die man nicht mehr vergisst.
Wir befinden uns zunächst im Frankfurt an der Oder, Ende der 1970er Jahre. Die junge Tina, eine Kranführerin, liebt den grenzenlosen Blick aus luftiger Höhe. Für sie scheint in der Ferne alles möglich: ein Zuhause in den neuen Wohnblöcken, ein Leben mit ihrem Mann Mischa, vielleicht sogar mit einem Kind, das diese Welt vollkommen macht. Doch das Schicksal hat andere Pläne. Mischa, leidenschaftlicher Musiker, bleibt 1986 nach einem Konzert im Westen zurück. Er kommt nicht wieder. Tina stürzt in eine Welt der Leere, und als Jahre später die Mauer fällt, sucht sie Trost in einem trügerischen Glück – auf Kosten ihres eigenen Kindes, das sie zurücklässt. Eine Entscheidung, die alles verändert, für immer.
Parallel dazu erzählt die Autorin von Katja, einer Frau im wiedervereinigten Deutschland, die Jahrzehnte später mit ihrer eigenen Zerreißprobe konfrontiert wird. Ungeliebt im Job, unvorbereitet schwanger, vom Vater des Kindes verlassen, steht auch sie vor einer existenziellen Entscheidung. In beiden Erzählsträngen spiegelt sich die große Frage des Romans: Was bedeutet es, Mutter zu sein? Welche Verantwortung, welche Bindung, welche Last liegt in dieser Rolle – und wie frei sind Frauen überhaupt, wenn sie zwischen Liebe, Verlust und Selbstbehauptung stehen?
Zitzmann entfaltet ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen, die sich kongenial ergänzen. Vergangenheit und Gegenwart, DDR und Nachwendezeit, zwei Frauen, zwei Lebensentwürfe – und doch dieselben Brüche, dieselben Kämpfe. Tina und Katja vertrauen Männern, die sie im entscheidenden Moment verlassen. Beide fallen tief. Beide müssen erkennen, dass ihre Lebenswege von Abhängigkeit und Schmerz durchzogen sind. Und doch geht es nicht nur ums Scheitern, sondern auch um Stärke, um die Suche nach Versöhnung und um die Frage, ob Schuld jemals vergehen kann.
Schuld – dieses schwere, allgegenwärtige Thema zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk. Tina verlässt ihr Kind. Katja trifft eine Entscheidung, die ihr Leben für immer prägt. Wie lebt man weiter mit solchen Lasten? Wann verblasst Schuld? Und kann man Schuld überhaupt vererben – von Mutter zu Tochter, von Generation zu Generation? Der Roman zeigt mit kraftvoller Eindringlichkeit, dass sich Geschichte wiederholt, dass ungelöste Fragen Kreise ziehen, und dass sich manchmal ein Kreis doch schließen lässt – wenn auch schmerzhaft, zerbrechlich, und niemals ohne Narben.
Dabei geht Zitzmann nie den einfachen Weg. Sie verurteilt nicht, sie belehrt nicht. Stattdessen schenkt sie den Leserinnen und Lesern eine andere Perspektive: Wie fühlt es sich an, wenn das eigene Kind plötzlich nicht mehr Mittelpunkt, sondern Störfaktor ist? Welche Gedanken dürfen gedacht, welche Worte ausgesprochen werden – auch wenn sie gegen jedes Tabu verstoßen? Genau diese schonungslose Ehrlichkeit macht den Roman so stark, so wahrhaftig.
Und dann ist da noch der Stil. Yvonne Zitzmann schreibt mit einem Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Bildhaft, poetisch, oft so intensiv, dass man meint, die Szenen direkt mitzuerleben. Ihre Sprache ist reich an Metaphern, voller Kraft und Zartheit zugleich. Sie schenkt uns Sätze, die man unterstreichen möchte, um sie immer wieder lesen zu können. Worte, die bleiben.
Sind wir für alle Zeiten mit unseren Müttern verbunden? ist ein Roman über Frauen, über Mütter, über Schuld und Vergebung, über Verlassenwerden und das Wiederaufstehen. Es ist ein Buch über die Kraft der Erinnerung, über Wiederholungen im Leben und darüber, wie sich Lebenswege durchbrechen oder doch erneut verdichten.
Dieser Roman hat mich tief bewegt. Er ist klug komponiert, sprachlich brillant und emotional überwältigend. Er zeigt, wie verletzlich, wie stark, wie widersprüchlich Frauen sein können – und wie sehr sie trotz aller Brüche miteinander verbunden sind. Wer dieses Buch liest, wird es nicht so schnell vergessen. Ein literarisches Erlebnis von seltener Intensität.
- Herausgeber : btb Verlag
- Erscheinungstermin : 10. September 2025
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 304 Seiten
- ISBN-10 : 3442763061
- ISBN-13 : 978-3442763061
- Abmessungen : 14.4 x 2.9 x 22 cm
- 24 Euro