„Da, wo ich dich sehen kann“ von Jasmin Schreiber ist ein Roman, der einen schon mit den ersten Seiten tief berührt – nicht, weil er leicht zu lesen wäre, sondern weil er so ehrlich, klar und menschlich erzählt, wie Schmerz und Verlust eine ganze Welt aus den Angeln heben. Es geht um einen Femizid, um eine Familie im völligen Ausnahmezustand und um eine Gesellschaft, die immer noch wegschaut, wenn Gewalt im eigenen Zuhause geschieht. Und gleichzeitig ist es ein Buch über das Weiterleben: zerbrechlich, mühsam, aber auch voller leiser Hoffnung.
Im Mittelpunkt steht die neunjährige Maja, ein Mädchen, das in einer Familie aufwächst, in der die Stimmung ständig kippt: ein Vater, der tyrannisch und unberechenbar ist, eine Mutter, die liebt, aber kaum noch Kraft hat, und dazwischen Maja, die vieles spürt, aber nur wenig versteht. Es gibt Schweigen, Anspannung und Momente, die sich wie Schatten über ihr Kinderleben legen.
Und dann passiert das Unvorstellbare: Majas Vater tötet ihre Mutter. Ein Augenblick, der alles davor und alles danach voneinander trennt. Für Maja bricht ein Riss in der Welt auf – ein riesiges Loch, das niemand schließen kann. Aber auch für Verwandte, Freunde und das ganze Umfeld ändert sich plötzlich alles. Das Buch zeigt eindringlich, wie weit die Erschütterungen reichen, wenn ein Mensch durch Gewalt aus dem Leben gerissen wird.
Von einem Moment auf den anderen wird Maja zum Spielball zwischen Behörden, Zuständigkeiten, Angst und Hilflosigkeit. Sorgerechtsfragen, Bürokratie, fremde Erwachsene – all das überschwemmt ihr Leben, während sie eigentlich nur Halt bräuchte. Sie verliert nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr Zuhause, die täglichen Kleinigkeiten der Geborgenheit, das Gefühl, irgendwohin zu gehören. Man spürt beim Lesen diese kindliche Orientierungslosigkeit, die fast körperlich wehtut.
Ein Lichtblick – und zum Glück ein kräftiger – ist Liv, Majas Patentante. Liv ist Astrophysikerin, eine Frau, die Sterne liebt und im Universum Fragen stellt, für die es auf der Erde manchmal keine Worte gibt. Sie ist selbst unsicher, geplagt von alten Wunden, und fühlt sich überfordert von der plötzlichen Verantwortung. Und doch ist sie da. Sie nimmt Maja an die Hand, zeigt ihr Planeten, Nebel, Galaxien – Orte, die groß genug sind, um Trauer auszuhalten.
Zwischen Liv und Maja wächst etwas Zartes, Starkes, Echtes: eine Verbindung, die sich in den Nächten am Teleskop vertieft, im gemeinsamen Staunen über Lichtjahre und im Versuch, in all dem kosmischen Chaos einen Halt zu finden. Das Universum wird zu ihrem sicheren Raum, einem Ort, an dem sie Antworten suchen, die ihnen im Alltag niemand geben kann.
Jasmin Schreiber erzählt diese Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und schafft es damit, ein ganzes gesellschaftliches Panorama zu skizzieren: Wie Gewalt Familien zerreißt, wie Systeme versagen, wie Hilfsstrukturen funktionieren – oder eben nicht. Und trotz der Härte des Themas bleibt der Roman unglaublich feinfühlig. Er zeigt die Schönheit kleiner Momente, den Mut, der im Weiterleben steckt, und die Kraft neuer Beziehungen.
„Da, wo ich dich sehen kann“ ist ein intensives, kluges Buch, das lange nachhallt. Es erzählt vom Verlust, aber noch viel mehr von Hoffnung. Von Dunkelheit, aber auch vom Licht, das in jeder Beziehung aufscheinen kann. Und es erinnert daran, wie wichtig es ist, hinzusehen – bei einzelnen Schicksalen und bei der Gewalt, die uns als Gesellschaft etwas angeht. Ein zutiefst bewegender Roman, der berührt und gleichzeitig tröstet.
- Herausgeber : Eichborn
- Erscheinungstermin : 31. Oktober 2025
- Auflage : 1. Aufl. 2025
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 432 Seiten
- ISBN-10 : 3847902237
- ISBN-13 : 978-3847902232
- Abmessungen : 13.5 x 3.8 x 21.5 cm
