/ Februar 2, 2023/ Romane

Etwa 9 Jahre ist Joseph Ambacher, als er mit Mutter, Tante und Großeltern im Frühjahr 1945 auf der Flucht vor der herannahenden Roten Armee aus dem Warthegau von eben jener gefangen genommen und nach Kasachstan in Zentralasien deportiert wird.

Bei extrem kalten Temperaturen und ohne Verpflegung stirbt sein kleiner Bruder auf dem tagelangen Transport in Güterzügen an Erschöpfung. Kurz nach der Ankunft verschwindet seine Mutter in einem Schneesturm, um nie wieder aufzutauchen.
Gelandet in feindlicher Natur und unter ihnen nicht wohlgesonnenen Menschen, deutschen Aussiedlern früherer Generationen, muss sich der traumatisierte Junge mit seinen Angehörigen nun einleben. Seine neue Heimat muss er noch zehn Jahre bewohnen – erst 1955, als Adenauer mit Chruschtschow die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen aushandelt, dürfen auch jene Verschleppten nach Hause zurück.

Aber eigentlich gibt es kein Zuhause – denn ihre Heimat gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht für diese Familie: seit Jahrhunderten lebten sie in Galizien, das jetzt zur Ukraine gehört, und dann im Wartheland, was nun ein Teil Polens ist.

Das neue Zuhause soll nun der kleine Ort Mühlheide in Niedersachsen, wo sie, zusammen mit anderen Russlandheimkehrern, am Stadtrand siedeln. Dort hat man alles im Blick und kann im Notfall auch schnell die Flucht ergreifen …
Im Jahr 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, kommen viele Spätaussiedler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Mühlheide, denn es hat sich unter ihnen herumgesprochen, dass dort bereits viele Landsleute sind.

Nun wiederholt sich die Situation mit umgekehrten Vorzeichen: 1945 waren Joseph und seine Familie die neuen Deutschen in Kasachstan, 1991 sind sie in Mühlheide die Altsibirer, und die Nachfahren der vormals alteingesessenen Deutschen in Russland sind jetzt die Neuen. Nur eins hat sich nicht geändert: Joseph und seine Leute haben stets Ausgrenzung erfahren, erst in Kasachstan, später in Norddeutschland.
Genau genommen besteht der Roman aus zwei Teilen, der Kindheit Josephs in Kasachstan und der Kindheit seiner Tochter Leila in Mühlheide. Außerdem gibt es eine Rahmenhandlung: Joseph, heutigentags weit über 80, wird dement und soll seine verbleibende Zeit in einer Einrichtung verbringen, so wünscht es seine Ehefrau. Für Tochter Leila ist dies Anlass und letzte Gelegenheit, seine Geschichte aufzuschreiben, die sie sich aus ihren eigenen Erinnerungen und seinen Erzählungen zusammenreimt, welche seltsam ineinanderfließen. Früher gab es mal Tagebücher, doch die hat Joseph, in einem Anfall alles Vergangene hinter sich lassen zu wollen, längst vernichtet.
Bedrückend ist dieses Buch, es handelt von Menschen ohne Heimat, ohne Wurzeln, die nirgendwo und zu keiner Zeit dazugehören. Sabrina Janesch hat sich eines bislang in der Literatur wenig beachteten Themas angenommen. Das finde ich spannend, und ich hoffe sehr, dass sie damit nicht alleine bleibt. Gänzlich neu war es mir nicht, denn ich hatte meinen Erstkontakt mit diesem Thema bereits in den 90ern, damals habe ich das sehr lesenswerte und aufschlussreiche Sachbuch „Verschleppt ans Ende der Welt“ von Freya Klier (Ullstein-Verlag) gelesen. Deshalb war ich so neugierig auf Janeschs Roman. Außerdem hat mich ihr Buch „Katzenberge“ sehr beeindruckt, sie ist also für mich keine Neuentdeckung. Vielleicht bleibt „Sibir“ gerade deswegen insgesamt hinter meinen Erwartungen zurück, denn mir ist nicht ganz klar, was das Buch genau will. Den Handlungsteil in Kasachstan 1945 finde ich sehr spannend und ausdrucksstark, und ich bedaure, dass die Autorin sich hier lediglich auf das erste Jahr der Ambacherschen Verbannung beschränkt hat, denn über ihr Schicksal in den Folgejahren hätte ich gerne Weiteres erfahren. Leilas Geschichte 1991 dreht sich im Wesentlichen um einen unglücklichen Kinderstreich, der später bereinigt werden soll. Dieser Handlungsstrang gerät manchmal langatmig, z. T. auch langweilig. Es wird vieles angedeutet, um dann am Rand liegengelassen zu werden, ohne die Handlung voranzutreiben, und das ist schade, denn hier hat die Autorin m. E. Potential verschenkt. Beide Teile werden wechselweise erzählt. Für beide Figuren, den jungen Joseph und Leila, ist ein bester Freund sehr wichtig, eine Parallelität, die wohl nicht zufällig gewählt wurde. Wie Leila zu ihrem Namen gekommen ist, wird nicht erlärt. Meines Wissens hat er seinen Ursprung im Arabischen Sprachraum, deshalb finde ich diese Namenswahl hier ungewöhnlich und kann mir den Grund dafür nicht erschließen.
Sabrina Janesch, Jahrgang 1985, ist eine junge Autorin, die man im Auge behalten sollte, jedenfalls hoffe ich, dass noch mehr von ihr kommt. „Sibir“ passt hervorragend in die Zeit, ist aber nach meinem Ermessen nicht ihr stärkstes Buch.

Informationen zum Autor

Sabrina Janesch, geboren 1985 in Gifhorn, studierte Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim und Polonistik an der Jagiellonen-Universität Krakau. 2010 erschien ihr Roman «Katzenberge», 2012 «Ambra» und 2014 «Tango für einen Hund». Für ihr Schreiben wurde Sabrina Janesch mehrfach ausgezeichnet: Sie erhielt den Mara-Cassens-Preis, den Nicolas-Born-Förderpreis, den Anna-Seghers-Preis, war Stipendiatin des Ledig House, New York, und Stadtschreiberin von Danzig. Sabrina Janesch lebt mit ihrer Familie in Münster.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Rowohlt Berlin; 1. Edition (31. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 352 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3737101493
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3737101493
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13.5 x 3.3 x 20.9 cm

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