Karin Kersting
Das Wort „Pflegenotstand“ wird oft verwendet, um auf die schwierige Situation in der Pflege hinzuweisen. Allerdings ist dieser Begriff inzwischen so häufig verwendet worden, dass er nicht mehr die tatsächliche Problematik angemessen darstellt, sondern sie eher verschleiert. Karin Kersting hat in ihrer Untersuchung das Ziel, die tatsächlichen Auswirkungen dieses Pflegenotstands genauer zu erforschen, insbesondere im Hinblick auf die professionellen Pflegekräfte.
Die Studie konzentriert sich darauf, wie die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen an die Pflege und der Realität in der Pflege die beruflichen Pflegenden beeinflusst. Diese Auswirkungen führen zu nachhaltigen Veränderungen in der beruflichen Einstellung der Pflegekräfte, und sie wirken sich sogar tiefgreifend auf deren Persönlichkeit aus. Die Erkenntnisse, die in dieser Untersuchung gewonnen werden, haben weitreichende Bedeutung, die über den Bereich der beruflichen Ethik in der Pflege hinausgeht.
Im Grunde geht es hier exemplarisch darum, welche Folgen es hat, wenn Menschen sich an unhaltbare berufliche Strukturen, die als „Notstände“ bezeichnet werden, gewöhnen. Dies betrifft nicht nur die Pflege, sondern kann auch Auswirkungen in anderen Bereichen haben, wie zum Beispiel im Bildungswesen, im sozialen Hilfesystem und ähnlichen Bereichen.
Das Buch beginnt mit zwei Vorworten und einem Geleitwort von C. Offermann, gefolgt von einer Einleitung, in der die Autorin einen Überblick über den Aufbau und die Ziele ihrer Untersuchung gibt.
Die Untersuchung gliedert sich in neun Kapitel:
„Sollen und Sein in der Pflege“: In diesem Kapitel beleuchtet die Autorin die Spannung zwischen der Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Patienten und der Systemrationalität in der Pflegearbeit. Sie untersucht, wie diese Gegensätze die berufliche Einstellung der Pflegenden beeinflussen und führt den Begriff der „bürgerlichen Kälte“ ein, der von der Kritischen Theorie geprägt ist.
„Bürgerliche Kälte“ und Krankenpflege: Dieses Kapitel ordnet die Untersuchung in das größere Forschungsprojekt „Moralische Krisenerfahrung in Kindheit und Jugend“ ein und beleuchtet die gesellschaftlichen Strukturhintergründe der im ersten Kapitel behandelten Problematik.
„Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung“: Hier werden Kohlbergs klassische Theorien zur Moralentwicklung vorgestellt und kritisch hinterfragt. Die Autorin zeigt Widersprüche und künstliche Dilemmasituationen in Kohlbergs Modell auf und entwickelt wichtige Gesichtspunkte für ihre weitere Forschung.
„Untersuchungsanlage und Forschungsmethode“: Die Autorin beschreibt die Forschungsmethodik, die auf dem Prinzip der „objektiven Hermeneutik“ basiert. Sie definiert den Untersuchungsbegriff als „Reaktion des einzelnen Pflegenden auf den Konflikt“ und erläutert die methodischen Schritte, die in ihrer Forschung verwendet werden.
„Reaktionsmuster auf eine moralische Konfliktsituation“: In diesem Kapitel werden die Reaktionsmuster der Pflegenden auf moralische Konfliktsituationen untersucht. Die Autorin klärt, wie Pflegende sich in typischen moralischen Konflikten ihres Arbeitsalltags verhalten und wie sie ihre Sensibilität für die Verletzung normativer Ansprüche verlieren. Dabei werden Portraits einzelner Probanden erstellt und allgemeine Merkmale von Konfliktsituationen in der Pflege dargestellt.
Im sechsten Kapitel mit dem Titel „Zur Entwicklungslogik der Reaktionsmuster“ beschreibt die Autorin, wie die Pflegenden Strategien entwickeln, um mit dem Widerspruch zwischen den moralischen Ansprüchen und der Realität ihrer Arbeit umzugehen. Sie lernen, Dinge hinzunehmen, gegen die sie sich eigentlich auflehnen sollten, weil sie im Widerspruch zu dem stehen, was sie eigentlich erreichen und tun sollen. Diese Strategien werden als „Kälteellipse“ bezeichnet, die verdeutlicht, wie die Pflegenden ihre Sensibilität für die Verletzung moralischer Ansprüche in ihrer Arbeit verlieren, aber dennoch Wege finden, an diesen Ansprüchen festzuhalten. Die Autorin zeigt anhand einiger Beispiele, wie die moralische Desensibilisierung als ein Prozess verläuft und in welche Richtung sich die betroffenen Personen entwickeln.
Im siebten Kapitel mit dem Titel „Die Bearbeitung moralischer Konflikte in der Pflegeethik“ untersucht die Autorin den Beitrag der Pflegeethik zur Sensibilisierung für moralische Probleme und zur Bewältigung von moralischen Konflikten im Pflegealltag anhand von ausgewählten Werken.
Im achten Kapitel „Was ist zu tun?“ bewertet die Autorin die untersuchten Reaktionsmuster anhand von drei Kriterien: dem subjektiven Befinden der Probanden, den konkreten Auswirkungen auf die praktische Pflege und dem wachsenden Verständnis für die strukturellen Bedingungen des Pflegealltags. Sie fordert, dass die Erkenntnisse der Pflegewissenschaft über die strukturellen Bedingungen in die Pflegepraxis integriert werden müssen.
Das neunte Kapitel „Weiterführende Forschungen“ zeigt auf, welche Forschungsfragen sich aus den Ergebnissen ergeben und wie sie auf Bereiche wie das Burnout-Problem und die berufliche Sozialisation angewendet werden können.
Der Anhang bietet eine Darstellung der Themen der Moralkonflikte im Gesamtkontext des Forschungsprojekts „Moralische Krisenerfahrung in Kindheit und Jugend“, das von A. Gruschka initiiert wurde.
Die Untersuchung schließt mit einem Literaturverzeichnis, das die verwendeten Quellen auflistet.
Die Untersuchung bietet einen tiefen Einblick in die Herausforderungen, mit denen Pflegende in ihrem Berufsalltag konfrontiert sind, und beleuchtet die Auswirkungen auf ihre moralische Entwicklung und berufliche Haltung.
Das Buch von Karin Kersting ist nicht nur für Lehrende und Studierende in der Pflegewissenschaft relevant, sondern auch für alle, die sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen. Die Autorin spricht ein weit verbreitetes gesellschaftliches Problem an, das mit der Kälte gegenüber scheinbar unveränderlichen Notlagen in Verbindung steht. Dieses Phänomen zeigt sich in vielen Bereichen, die von Notständen und Sparzwängen betroffen sind. Die Autorin analysiert die Reaktionsmuster in der Pflegebranche und kommt zu bedeutenden Ergebnissen, die über den aktuellen Forschungsstand hinausgehen. Diese Ergebnisse sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz und berühren grundlegende ethische und menschenrechtliche Fragen.
Obwohl das Buch in einigen Abschnitten anspruchsvoll sein kann, lohnt es sich, sich damit zu befassen. Die Untersuchung von Karin Kersting bietet wertvolle Einblicke in den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sowie das wachsende Problem der „Kälte“. Es ist daher unbedingt empfehlenswert für alle, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen möchten.
- Herausgeber : Mabuse-Verlag; 5. Aufl. Edition (11. November 2019)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 322 Seiten
- ISBN-10 : 3940529990
- ISBN-13 : 978-3940529992
- Abmessungen : 14.9 x 3.5 x 21.1 cm