
Ein stilles Leben, das leuchtet – eine Hommage an Mut, Eigensinn und leise Größe
Was bleibt von einem Leben, wenn die Stimme verstummt, das Herz aufhört zu schlagen und niemand mehr lebt, der sich erinnert? In einer Zeit, in der die Welt sich in rasendem Tempo dreht, gelingt es Henning Sußebach, die Uhr zurückzudrehen – nicht nur Jahrzehnte, sondern ein ganzes Jahrhundert. Mit liebevoller Beharrlichkeit und feinem Gespür für das Verborgene begibt er sich auf Spurensuche nach einer Frau, deren Name in keinem Geschichtsbuch steht, die aber – im Kleinen, im Stillen, im Widerspruch – Geschichte schrieb: Anna Kalthoff, seine Urgroßmutter.
Eine Frau, die nicht in die Zeit passte – und genau deshalb so modern wirkt
Es ist das Jahr 1887, als Anna, eine junge Frau aus dem niederländischen Klosterinternat, das beschauliche Cobbenrode im Sauerland betritt. Frisch ernannte Lehrerin, gebildet, klug, selbstbewusst – doch es dauert nicht lange, bis sie aneckt. Anna will nicht kuschen. Nicht vor der Kirche, nicht vor der dörflichen Enge, nicht vor gesellschaftlichen Zwängen. Sie will leben – nicht funktionieren. Lieben – nicht gehorchen. Entscheiden – nicht folgen.
Ein Jahrhundert später blickt ihr Urenkel auf ein paar Fotos, ein Poesiealbum, einen Verlobungsring – und begibt sich auf eine Reise, die nicht nur ihn verändert, sondern auch uns Leserinnen und Leser tief berührt. Aus wenigen Fragmenten, Erinnerungsstücken und historischen Dokumenten formt Sußebach ein lebendiges Porträt einer außergewöhnlichen Frau in einer außergewöhnlichen Zeit.
Die stille Rebellion einer Alltagsheldin
Anna widersetzte sich dem Lehrerinnenzölibat, das ihr eine Heirat untersagte, kündigte, heiratete – und als junge Witwe übernahm sie das Postamt, die Gastwirtschaft, das Geschäft. Sie war Geschäftsfrau, Mutter, Gastgeberin – und Kämpferin. Eine zweite Heirat? Ja – und wieder gegen die Konventionen. Anna war keine, die sich verbog. Sie war eine, die selbst lenkte.
Henning Sußebach gelingt es meisterhaft, diese rebellische, mutige Frau aus dem Schatten der Geschichte zu holen – nicht laut, nicht überhöht, sondern menschlich, warm, voller Achtung und Staunen. Man spürt in jeder Zeile seine tiefe Zuneigung, seine Neugier, seine Demut vor dem, was Anna in einer Zeit geleistet hat, in der Frauen kaum eigene Wege gehen durften.
Vergangenheit zum Leben erweckt – Geschichte aus dem Blickwinkel einer Familie
Was Sußebach erzählt, ist keine trockene Biografie, sondern ein literarischer Brückenschlag zwischen persönlichem Schicksal und großem Weltgeschehen. Parallel zu Annas Lebensweg entfaltet sich ein historisches Panorama: Das Deutsche Kaiserreich, der Erste Weltkrieg, das Frauenbild um 1900, die Schulgesetze des 19. Jahrhunderts – all das wird nicht dozieren präsentiert, sondern fein verwoben mit Annas Erfahrungen.
Gerade die Einbettung in den historischen Kontext ist ein großer Reiz dieses Buches. Wir erfahren, wie Schule damals funktionierte, wie Frauen mit gesellschaftlichen Erwartungen rangen, wie das Dorf Cobbenrode sich veränderte – und welche Spuren der Erste Weltkrieg selbst in abgelegenen Regionen hinterließ.
Bilder, die sprechen – Spuren, die nicht verblassen
Sußebach schenkt Anna nicht nur Worte, sondern auch Bilder: 17 Fotografien zeigen uns eine Frau, die uns direkt in die Augen schaut, die mit ihren Kindern lacht, die das Leben nicht scheut, sondern umarmt. Diese Bilder sind keine dekorative Beigabe – sie sind Teil des Erzählens. Sie atmen Geschichte.
Ein Buch, das nachklingt – und Fragen stellt
Am Ende bleibt die große Frage: Wie viele Annas gibt es, deren Geschichten nie erzählt wurden? Wie viele Urgroßmütter, Großväter, Tanten und Onkel, deren Lebensmut, Schmerz, Hoffnung und Wille unter Staub und Zeit begraben sind?
Sußebachs Buch ist nicht nur eine Wiederentdeckung – es ist ein Weckruf: Forscht nach, fragt nach, erinnert euch! Denn Geschichte beginnt nicht in Archiven, sondern in unseren Familien, unseren Herzen, unseren Wurzeln.
Fazit: Ein literarischer Schatz – warmherzig, nachdenklich und inspirierend
„Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist ein leises Meisterwerk, das mit eindrucksvoller Klarheit zeigt, wie viel Größe in einem scheinbar kleinen Leben stecken kann. Es ist ein Buch, das wir nicht nur lesen, sondern fühlen.
Henning Sußebach gelingt das Wunder, aus Lücken eine Geschichte zu formen – und aus Erinnerung ein Denkmal. Ein Denkmal für eine Frau, die uns zeigt: Leben heißt, seinen eigenen Weg zu gehen. Ein berührendes, poetisches und mutmachendes Buch – für alle, die wissen wollen, woher sie kommen, und für alle, die nie vergessen wollen.
- Herausgeber : C.H.Beck
- Erscheinungstermin : 10. Juli 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 205 Seiten
- ISBN-10 : 3406836267
- ISBN-13 : 978-3406836268
- Abmessungen : 14.1 x 2.3 x 22 cm
- 23 Euro