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Yukio Mishima, einer der bekanntesten und umstrittensten japanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, führt in seinem 1963 erschienenen Roman Der Held der See eine Geschichte auf, die Themen wie Heldenverehrung, den Konflikt zwischen Tradition und Moderne sowie die dunklen Seiten der menschlichen Psyche auf eindrucksvolle Weise behandelt. Der Roman wurde nun nach über 50 Jahren von Ursula Gräfe neu übersetzt und trägt einen neuen Titel: Der Held der See. Die Geschichte entfaltet sich rund um den dreizehnjährigen Noboru und seine Beziehung zu Ryuji, einem Seemann, den Noboru anfänglich als Idol verehrt. Doch wie so oft in Mishimas Werken, wird das Ideal schnell zum Bruchteil einer unerbittlichen Realität, und der Held zerbricht an den Enttäuschungen der Wahrheit.
Der Seemann Ryuji und das Ideal des Helden
Noboru und seine Freunde, allesamt dreizehn Jahre alt, sind die Vertreter einer Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist. Sie sind klug, in der Schule die Besten, doch sie hegen eine tiefsitzende Verachtung für die Erwachsenenwelt, die sie als heuchlerisch und sentimental empfinden. Einzig der Seemann Ryuji stellt für sie eine Ausnahme dar. Mit seiner Erscheinung und seinem Leben auf See verkörpert er für den Jungen das Ideal eines wahren Helden. Ryuji scheint die Verkörperung von Abenteuer, Männlichkeit und Freiheit zu sein – eine Figur, die den Alltag und die schrecklichen Erfahrungen des Krieges hinter sich gelassen hat und den Mut besitzt, den Ozean zu durchkreuzen.
Noboru bewundert Ryuji und fühlt sich ihm in einer Weise verbunden, die sich über die übliche Verehrung hinaus in einen kindlichen Drang verwandelt, Ryuji als einen Teil seines eigenen Lebens zu beanspruchen. Besonders faszinierend ist, wie Noboru und seine Freunde mit dieser Anbetung spielen, indem sie sich einen heroischen Platz in ihrer kleinen Welt verschaffen. Sie betrachten die Welt der Erwachsenen mit einer Mischung aus Verachtung und Neugier, und Ryuji, der Seemann, ist derjenige, dem sie ihr Vertrauen schenken.
Doch als Ryuji sich entscheidet, nicht mehr auf See zu leben, sondern eine Beziehung mit Noborus Mutter, Fusako, einzugehen, wird das Bild des unantastbaren Helden von Noboru zerstört. Für den Jungen ist die Entscheidung seines Idols ein Verrat – eine Entscheidung, die sich wie ein Schlag gegen seine Kindheitserwartungen und seine Idealisierung des Seemanns anfühlt. Ryuji, der für ihn die Freiheit und das Abenteuer verkörperte, zeigt plötzlich Schwächen, als er sich für ein Leben an Land entscheidet.
Der Verlust des Helden
Mishima schildert meisterhaft den Zerfall des Ideals. Ryuji, der sich von der Weite des Meeres entfernt und sich in einem ruhigen, sesshaften Leben niederlässt, verliert für den Jungen die Aura des Helden. Für Noboru wird die Veränderung seiner Mutter und ihres neuen Partners zu einem schmerzhaften Prozess der Erkenntnis. Der Mann, den er einst bewundert hat, entpuppt sich als ein gewöhnlicher Mensch, der sich von den eigenen Idealen verabschiedet hat. Die Entscheidung, die er trifft, ist eine schmerzliche Enttäuschung für Noboru und markiert den Punkt, an dem der Junge beginnt, seinen früheren Helden zu verachten.
Ryuji selbst scheint mit der Entscheidung, sich auf das Land und die Ehe mit Fusako einzulassen, im Konflikt zu stehen. Er hat immer vom Meer geträumt und den Ruhm des Seemanns gesucht. Doch jetzt, in der Nähe von Fusako und ihrer Familie, erkennt er, dass die Ruhe und der Frieden des Landlebens ihm etwas geben, was das Meer nicht bieten konnte. Es ist ein schmerzhafter Verlust seiner selbst, als er vom Abenteuer des Meeres in das ruhige, aber auch tödliche Gewässer der Ehe und des Alltags übertritt. Ryuji, der als Held auf See einst strahlte, verliert nun seinen Platz im Zentrum des Universums und wird mit den Begrenzungen des Lebens auf dem Festland konfrontiert.
Die Dynamik zwischen Noboru, Fusako und Ryuji
Die Beziehung zwischen Noboru und Ryuji wird durch die gesamte Erzählung hindurch immer schwieriger und ambivalenter. Anfangs ein Idol, wird Ryuji für Noboru immer mehr zu einem Symbol der Enttäuschung. Doch auch Fusako, die Mutter von Noboru, wird im Verlauf der Geschichte zunehmend zu einer zentralen Figur. Als Witwe, die ihre eigene Vergangenheit hinter sich lassen möchte, sieht sie in Ryuji nicht nur einen Seemann, sondern auch einen Mann, mit dem sie ein neues Leben aufbauen kann. Ihre Perspektive auf das Leben und die Liebe unterscheidet sich stark von der von Noboru, der in seiner kindlichen Vorstellung von Heldenhaftigkeit gefangen bleibt.
Das Meer, das in der Geschichte immer wieder als Metapher für das Unbekannte, das Abenteurliche und das Gefährliche auftaucht, wird zu einem Symbol für die Spaltung der Charaktere. Während Ryuji immer mehr vom Meer weicht, bleibt Noboru in seiner verzweifelten Sehnsucht nach dem wahren Helden. Die Differenz zwischen den beiden Figuren könnte kaum größer sein – der Seemann, der sich niederlässt, und der Junge, der von einem Ideal lebt, das immer mehr in den Hintergrund tritt.
Der Nihilismus der Generation
Ein zentrales Thema des Romans ist auch die Entfremdung und der Nihilismus der Nachkriegsgeneration. Die Jungen um Noboru verachten ihre Väter und ihre Welt. Sie haben das Gefühl, dass die Erwachsenenwelt keine wirklichen Ideale mehr zu bieten hat. In einem verhängnisvollen Akt begehen sie als eine Art Mutprobe einen Mord an einer Katze und setzen ihre Leere und Gefühllosigkeit in die Tat um. Diese Szene, die von Mishima mit einer fast klinischen Distanz beschrieben wird, ist ein schockierendes Beispiel für die emotionale Leere, die diese Generation empfindet. Sie suchen nach Ruhm und Heldentum, doch sie tun dies auf eine zerstörerische Weise, die ihr inneres Unglück widerspiegelt.
Die Welt, in der sie leben, ist von einer permanenten Leere geprägt, die sich in der Jugend und im Erwachsenwerden widerspiegelt. Die Sehnsucht nach einem Ideal, sei es nun das Bild des Seemanns oder der Wunsch nach einem höheren Ziel, wird von der tristen Realität und der persönlichen Enttäuschung überschattet.
Fazit
Yukio Mishimas Der Held der See ist eine tiefgründige und komplexe Auseinandersetzung mit den Themen Idealisierung, Enttäuschung und der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Durch die Geschichte von Noboru, Ryuji und Fusako zeigt Mishima, wie fragile Heldenbilder sind und wie schnell die Realität die illusionären Vorstellungen zerstören kann. Die Entwicklung von Noboru, der zunächst von Ryuji als Idol fasziniert ist, und der später seine Enttäuschung und Verachtung für den Seemann entdeckt, ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Übergang von Kindheit und Idealismus zu einer härteren, nüchterneren Welt.
Mishima vermischt meisterhaft die Themen von Heldentum, Seelenqualen und der Suche nach einem höheren Sinn im Leben. Der Held der See ist ein Roman, der tief in die japanische Nachkriegsgesellschaft eintaucht und dabei universelle Themen wie Verlust, Enttäuschung und die Suche nach Identität anspricht. Die kraftvolle und poetische Sprache des Autors sowie die komplexen, vielschichtigen Charaktere machen diesen Roman zu einem literarischen Meisterwerk, das noch lange nachhallt.
- Herausgeber : Kein & Aber; 1. Edition (29. November 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 240 Seiten
- ISBN-10 : 303695046X
- ISBN-13 : 978-3036950464
- Originaltitel : Gogo no Eiko
- Abmessungen : 12 x 1.7 x 18.9 cm
- 24 Euro