
„Der Mensch als geistiges Naturwesen bei Adolf Portmann (1897–1982)“ von Frank Schulz-Nieswandt ist kein klassisches Philosophie- oder Biologiebuch, sondern eine gründliche und zugleich gut nachvollziehbare Rekonstruktion des Werks eines bedeutenden Denkers des 20. Jahrhunderts. Portmann selbst war ein Biologe und Philosoph, der sich immer wieder mit der Frage beschäftigte: Was macht den Menschen als Naturwesen aus – und was macht ihn zu etwas Besonderem?
Das Buch gliedert sich in drei große Schwerpunkte, die Portmanns Denken besonders prägen. Zunächst untersucht Schulz-Nieswandt Portmanns Beiträge zur Philosophischen Anthropologie. Dabei wird deutlich, wie der Mensch als Naturwesen verstanden wird, das zugleich über Geist, Reflexion und Kultur verfügt. Portmann sah den Menschen nicht nur als biologisches Lebewesen, das von Mechanismen und Kausalzusammenhängen gesteuert wird, sondern als ein Wesen, das durch Bewusstsein, Kreativität und soziale Interaktion über sich hinauswächst. Gerade diese Perspektive ist für die entwicklungspsychologisch orientierte Sozialisationsforschung von Bedeutung: Portmann liefert hier das theoretische Fundament dafür, wie Menschen in ihren sozialen und kulturellen Umwelten aufwachsen und sich entwickeln.
Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf Portmanns semiotischer Theorie der Natur. Schulz-Nieswandt zeigt, dass Portmann die Natur nicht einfach als eine Ansammlung von funktionalen, mechanischen Abläufen sah. Vielmehr betrachtete er die Zeichen und Ausdrucksformen der Natur als etwas, das interpretiert werden muss – als Ausdruck von Lebendigkeit, Gestalt und Entwicklung. Diese semiotische Perspektive eröffnet einen Zugang zur Natur, der jenseits von rein naturwissenschaftlicher Reduktion liegt: Sie betrachtet Lebewesen nicht nur als Objekte, die untersucht werden, sondern als Subjekte, die sich in Ausdruck, Verhalten und Erscheinung mitteilen. Der Mensch als geistiges Naturwesen wird so in eine Kontinuität mit der natürlichen Welt eingebettet, ohne dabei seine Besonderheit zu verlieren.
Der dritte Schwerpunkt des Buches liegt auf Portmanns humanistischer Kulturkritik der kapitalistisch-technischen Zivilisation. Portmann warnte vor einer einseitigen Technisierung des Lebens, vor der Dominanz mechanischer und funktionalistischer Denkweisen und vor der Reduktion von Kultur auf Effizienz und Nutzen. Schulz-Nieswandt arbeitet heraus, dass Portmann in seinen Arbeiten die menschliche Entwicklung als Schnittpunkt von Natur und Kultur verstand und auf eine humane, kulturell verantwortliche Lebensweise hinwies. Seine Perspektive ist heute hochaktuell: Sie fordert ein Bewusstsein dafür, dass menschliches Leben mehr ist als Technik, Funktion und Leistung, und dass Geist und Kultur zentrale Bestandteile des Menschseins darstellen.
Besonders interessant ist, dass Schulz-Nieswandt einige autobiographische Reflexionen in die Darstellung einfließen lässt. Durch diese persönlichen Zugänge wird Portmanns Denken nicht nur als theoretisches Konstrukt sichtbar, sondern auch als ein Werk, das Menschen inspiriert und bewegt. Die eigenen Erfahrungen des Autors dienen als Brücke, um die oft komplexen philosophischen und biologischen Überlegungen verständlicher zu machen. So entsteht ein Text, der sowohl wissenschaftlich fundiert als auch erzählerisch zugänglich ist.
Insgesamt bietet das Buch eine gründliche, gut strukturierte Rekonstruktion von Portmanns Denken, das den Menschen als geistiges Naturwesen beschreibt. Portmanns Paradigma der Einheit von Natur und Kultur geht über den klassischen Cartesianismus hinaus und widersteht einem rein mechanistischen oder funktionalistischen Verständnis von Leben. Menschsein wird hier als eine Synthese aus biologischer Natur, Geist, sozialer Interaktion und kultureller Gestaltung verstanden.
„Der Mensch als geistiges Naturwesen bei Adolf Portmann“ ist damit nicht nur für Fachleute der Philosophie oder Biologie interessant, sondern für alle, die sich fragen: Wie lässt sich das Menschsein verstehen, wenn man Natur, Geist und Kultur zusammen denkt? Wie können wir das Leben in seiner ganzen Vielschichtigkeit begreifen, ohne uns auf einseitige Erklärungen zu reduzieren? Und wie lässt sich eine humane Perspektive auf die technisierte Welt von heute entwickeln?
Frank Schulz-Nieswandt liefert ein Buch, das tief in Portmanns Werk eintaucht, die wichtigsten Themen klar strukturiert, kritisch reflektiert und dabei auch menschlich zugänglich bleibt. Ein wertvoller Beitrag für alle, die sich für Philosophische Anthropologie, Naturphilosophie und Kulturkritik interessieren.
- Herausgeber : Nomos
- Erscheinungstermin : 24. April 2023
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 135 Seiten
- ISBN-10 : 3756005356
- ISBN-13 : 978-3756005352
- Abmessungen : 15.2 x 22.7 x 1.5 cm
- 34 Euro
