Das Buch „Die Diagnostik traumabedingter Dissoziation: Mit dem Trauma and Dissociation Symptoms Interview (TADS-I) arbeiten“ von Suzette Boon ist ein fachlich fundiertes, aber praxisnahes Werk, das sich an Psychotherapeutinnen, Psychologinnen, Ärzt*innen und andere Fachpersonen im psychotherapeutischen oder psychiatrischen Bereich richtet. Die Autorin möchte mit ihrem Buch ein besseres Verständnis für sogenannte traumabedingte dissoziative Störungen schaffen – ein Thema, das in der psychologischen und psychiatrischen Fachwelt in den letzten Jahren immer mehr Beachtung findet.
Was sind dissoziative Störungen?
Dissoziative Störungen können auftreten, wenn Menschen sehr belastende oder traumatische Erfahrungen gemacht haben – zum Beispiel schwere Gewalt, Missbrauch oder extreme Vernachlässigung, besonders in der Kindheit. Um solche extremen Situationen zu überstehen, entwickelt das Gehirn Schutzmechanismen. Einer dieser Mechanismen ist Dissoziation. Das bedeutet: Die Betroffenen spalten Teile ihres Bewusstseins, ihrer Erinnerung oder ihres Gefühlslebens ab. Sie fühlen sich vielleicht wie „nicht richtig da“, haben Lücken im Gedächtnis oder das Gefühl, nicht sie selbst zu sein. Manchmal scheint es, als hätten sie verschiedene Persönlichkeitsanteile.
Diese Symptome sind oft schwer zu erkennen – sowohl für Betroffene selbst als auch für Fachleute. Sie können leicht mit anderen psychischen Erkrankungen verwechselt werden, zum Beispiel mit Depressionen, Angststörungen, Borderline oder Psychosen.
Ziel und Aufbau des Buches
Suzette Boon möchte mit diesem Buch helfen, diese Störungen besser zu erkennen und richtig zu diagnostizieren. Dazu stellt sie ein von ihr entwickeltes Instrument vor: das TADS-I (Trauma and Dissociation Symptoms Interview). Es handelt sich dabei um ein ausführliches Interview, mit dem Fachpersonen gezielt nach den wichtigsten Symptomen fragen können. Es geht dabei nicht nur um das reine „Abhaken“ von Kriterien, sondern darum, das Erleben der betroffenen Person besser zu verstehen.
Im ersten Teil des Buches beschreibt Boon die Herausforderungen bei der Diagnose dissoziativer Störungen. Die offiziellen Diagnosekriterien – zum Beispiel im DSM-5 (dem Klassifikationssystem aus den USA) oder der ICD-11 (der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation) – sind zwar hilfreich, greifen aber oft zu kurz. Es gibt viele Grauzonen und Unsicherheiten. Boon erklärt, wo diese Schwächen liegen, und wie man trotzdem zu einer fundierten Einschätzung kommen kann.
Symptome erkennen und verstehen
Ein wichtiger Teil des Buches widmet sich der Beschreibung von dissoziativen Symptomen. Diese können sehr unterschiedlich aussehen. Einige Menschen fühlen sich zeitweise wie „neben sich“, andere haben das Gefühl, dass der Körper nicht zu ihnen gehört, oder dass sie manchmal in eine „andere Rolle“ wechseln. Auch Erinnerungslücken, starke innere Spannungen oder das Gefühl, nicht zu wissen, was man selbst gerade tut, gehören dazu.
Boon zeigt auf, wie diese Symptome mit früheren traumatischen Erfahrungen zusammenhängen können. Dabei wird deutlich, dass es nicht nur auf das Trauma selbst ankommt, sondern auch darauf, wie die betroffene Person damals (meist in der Kindheit) damit umgehen konnte oder eben nicht umgehen konnte.
Differentialdiagnose und Fallbeispiele
Ein zentraler Aspekt ist die Differentialdiagnose – also die Frage: Handelt es sich wirklich um eine dissoziative Störung oder um etwas anderes? Denn viele Symptome ähneln denen anderer psychischer Erkrankungen. Boon gibt in ihrem Buch klare Hinweise, wie man sorgfältig unterscheiden kann. Sie beschreibt auch typische Fehler, zum Beispiel:
- Wenn Menschen eine dissoziative Störung haben, diese aber nicht erkannt wird (falsch-negativ),
- oder wenn jemand fälschlicherweise als dissoziativ diagnostiziert wird, obwohl das nicht zutrifft (falsch-positiv).
In vielen Fallbeispielen zeigt Boon, wie diese Fehler passieren können – und wie man sie vermeiden kann. Diese Beispiele machen das Buch besonders anschaulich und praxisnah.
Die Rolle des TADS-I
Das TADS-I ist das Herzstück des Buches. Boon erklärt genau, wie dieses Interview funktioniert, welche Fragen gestellt werden und worauf man bei den Antworten achten sollte. Ziel ist es, ein möglichst genaues Bild von der Innenwelt der betroffenen Person zu bekommen. Dazu gehört es auch, sensibel und respektvoll mit den oft sehr schmerzhaften Erinnerungen der Betroffenen umzugehen.
Weitere Themen: Biografiearbeit und Behandlungsplanung
Neben der Diagnostik geht das Buch auch auf die Biografiearbeit ein – also auf das strukturierte Nachvollziehen der Lebensgeschichte einer Person, insbesondere der traumatischen Erlebnisse. Dabei betont Boon, wie wichtig es ist, Sicherheit und Stabilität zu schaffen, bevor man zu tief in belastende Themen einsteigt.
Auch die Behandlungsplanung ist Thema. Eine richtige Diagnose ist nur der Anfang – danach braucht es einen klaren Plan für die Therapie. Boon zeigt, wie dieser Plan aussehen kann und welche Schritte wichtig sind: von der Stabilisierung über das Verstehen der Symptome bis zur Integration traumatischer Erinnerungen.
Über die Autorin
Suzette Boon, die Autorin, ist eine international anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Traumafolgestörungen. Sie ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin und hat viele Jahre mit Betroffenen gearbeitet. Sie ist Mitbegründerin der Europäischen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (ESTD). Für ihre Arbeit erhielt sie mehrfach Auszeichnungen.
Fazit
Das Buch bietet einen umfassenden, zugleich gut verständlichen Einblick in ein komplexes Thema. Es verbindet wissenschaftliche Grundlagen mit viel Praxiserfahrung. Für Fachpersonen, die Menschen mit schweren psychischen Belastungen begleiten, kann es eine wertvolle Hilfe sein – sowohl bei der Diagnostik als auch beim therapeutischen Umgang mit traumabedingter Dissoziation.
- Herausgeber : Junfermann Verlag
- Erscheinungstermin : 13. März 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 568 Seiten
- ISBN-10 : 3749506043
- ISBN-13 : 978-3749506040
- Abmessungen : 17.5 x 3.3 x 24.1 cm