Mit der Anmut eines Dichters und der Präzision eines Chronisten begibt sich Carlo Levi im Jahr 1958 auf eine Reise durch ein Deutschland, das noch immer von den Schatten seiner Vergangenheit durchdrungen ist. Bekannt als Autor des weltberühmten Werkes Christus kam nur bis Eboli, ist Levi selbst eine gezeichnete Seele – ein Mann, den die Schrecken des italienischen Faschismus ins Exil trieben. Nun wandelt er durch Städte, die sich aus den Trümmern des Krieges neu erheben, doch deren Wunden hinter den Fassaden noch immer schmerzen.
Ein Land, das schweigt
Deutschland erscheint Levi wie eine Bühne, deren Vorhang sich hebt, um eine doppelte Nacht zu offenbaren: die der zerstörten Vergangenheit und die des verschleierten Schweigens. München empfängt ihn mit seinen funkelnden Nachtlokalen, deren Lichter die Dunkelheit der letzten Jahre überstrahlen wollen. Doch in dieser Glitzerwelt lauert ein Schweigen, das schwerer wiegt als Worte. Levi begegnet schlesischen Vertriebenen, die in den Baracken des ehemaligen KZ Dachau hausen. Ihre Geschichten, still und voller Schmerz, verweben sich mit der düsteren Geschichte des Ortes, an dem sie leben.
Geschichte in Schichten
Von Augsburg über Ulm bis nach Tübingen erforscht Levi die Schichten der deutschen Geschichte. Wie ein Archäologe der Erinnerung blickt er in die Tiefen einer Kultur, die in der Vergangenheit Kunst und Geist hervorgebracht hat, doch in jüngster Zeit von Gewalt und Barbarei überschattet wurde. Die mittelalterlichen Gebäude, die er besucht, erzählen ihm von einer anderen Zeit – einer Zeit, in der Deutschland noch nicht unter den Narben des 20. Jahrhunderts stand.
Die gespaltene Seele Berlins
In Berlin begegnet Levi der gespaltenen Seele der Nachkriegszeit in ihrer reinsten Form. Die geteilte Stadt, in der der Westen und Osten wie zwei Schwestern nebeneinander existieren, ist für ihn ein Symbol der inneren Zerrissenheit. Der Besuch im Pergamonmuseum wird zu einer Allegorie: Die Kunstwerke, die nach dem Krieg aus Moskau zurückkehren, scheinen ebenso wie das Land selbst nach ihrer Identität zu suchen.
Ein Röntgenblick auf die Menschlichkeit
Mit einem ethnographischen Blick, den Levi selbst als „Röntgenblick“ beschreibt, durchdringt er die oberflächliche Normalität und enthüllt die menschlichen Abgründe, die sich darunter verbergen. Er spricht mit Menschen, deren Leben durch den Krieg zerrüttet wurden, deren Hoffnungen in den Ruinen vergangener Jahre liegen und deren Träume von einer besseren Zukunft noch brüchig sind.
Eine Sprache, die heilt
Doch trotz all der Trauer, die Levi in den Straßen Deutschlands findet, erhebt sich sein Bericht niemals zur Anklage. Stattdessen begegnet er der düsteren Realität mit einem warmherzigen Ton, der nicht nur die Abgründe beleuchtet, sondern auch den stillen Mut der Menschen würdigt. Seine Sprache hat eine heilende Kraft, eine zärtliche Qualität, die den Leser einlädt, mit ihm die tiefen Wunden eines Landes zu erkunden, ohne sich in deren Schmerz zu verlieren.
Ein Zeugnis für die Ewigkeit
Die doppelte Nacht ist mehr als ein Reisebericht. Es ist ein poetisches Zeugnis eines Mannes, der das Unsagbare in Worte fasst und die Verflechtungen von Vergangenheit und Gegenwart mit tiefem Mitgefühl aufzeigt. Levi gelingt es, die Architektur der Städte und die Seelen ihrer Bewohner gleichermaßen zu durchdringen. Das Buch lässt uns nicht nur die Schrecken der Geschichte, sondern auch die stillen Kräfte des Überlebens und der Erneuerung spüren.
In dieser doppelten Nacht findet Levi, was er sucht: Die Wahrheit über ein Land, das zwischen Erinnerung und Vergessen schwebt. Seine Reise durch Nachkriegsdeutschland wird zu einem Spiegel, in dem sich nicht nur die Geschichte eines Landes, sondern auch die Abgründe und Höhenflüge der menschlichen Natur offenbaren.
- Herausgeber : C.H.Beck; 2. Edition (11. Dezember 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 176 Seiten
- ISBN-10 : 3406823696
- ISBN-13 : 978-3406823695
- Originaltitel : La doppia notte dei tigli
- Abmessungen : 13.2 x 1.7 x 20.4 cm
- 300 Gramm
- 20 Euro