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In „Die übersehene Nation“ erzählt der Historiker Martin Schulze Wessel erstmals umfassend die Geschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen vom 19. Jahrhundert bis heute. Das Buch zeigt auf verständliche und eindrucksvolle Weise, wie eng die beiden Länder miteinander verbunden sind – viel enger, als vielen Menschen in Deutschland bewusst ist. Schulze Wessel macht deutlich, dass die Ukraine in der deutschen Erinnerung oft übersehen wurde, obwohl sie eine zentrale Rolle in den großen Konflikten des 20. Jahrhunderts spielte. Genau dieses Vergessen ist der Ausgangspunkt seiner eindringlichen Analyse.
Ein zentraler Gedanke des Buches lautet: Deutschland trägt nicht nur gegenüber Russland historische Verantwortung, sondern in noch größerem Maße gegenüber der Ukraine. Während diese Verantwortung in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wurde, zeigt Schulze Wessel, wie stark deutsche Politik und deutsche Geschichte das Schicksal der Ukraine beeinflusst haben. Viele der Probleme, Missverständnisse und politischen Fehler der Gegenwart lassen sich, wie er deutlich macht, aus dieser vergessenen Vergangenheit erklären.
Im Ersten Weltkrieg verbanden sich deutsche Pläne für Osteuropa mit den Hoffnungen der ukrainischen Nationalbewegung. Die ukrainische Unabhängigkeitserklärung von 1918 wurde überhaupt erst möglich, weil das damalige Deutsche Reich das Land besetzte und – wenn auch aus eigenen Interessen – den Aufbau eines ukrainischen Nationalstaats unterstützte. Schulze Wessel erklärt, wie diese frühe Annäherung entstand und warum sie nur von kurzer Dauer war.
Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Lage dramatisch. Die Ukraine wurde zu einem der wichtigsten Schauplätze des deutschen Vernichtungskrieges. Millionen Menschen verloren ihr Leben. Dass große Teile der deutschen Gewaltpolitik gerade hier ihren grausamsten Ausdruck fanden, ist vielen heute kaum bewusst. Schulze Wessel untersucht, warum das so ist und welche Folgen dieses fehlende Bewusstsein bis heute hat. Auch die komplexe Rolle von Stepan Bandera, der im Zweiten Weltkrieg zeitweise auf eine Allianz mit Deutschland hoffte, wird differenziert erklärt. Dabei zeigt der Autor, wie sehr Hitlers koloniales und rassistisches Projekt sich von den Plänen des kaiserlichen Deutschlands unterschied – ein entscheidender Unterschied, der weitreichende Folgen hatte.
Nach 1945 verschwand die Ukraine im deutschen Bewusstsein weitgehend hinter dem Begriff „Sowjetunion“. Viele Menschen in West- wie Ostdeutschland nahmen die Ukraine nicht mehr als eigenständige Nation wahr. Selbst nach 1991, als die Ukraine unabhängig wurde, blieb sie für viele Deutsche eine Art „Randland“, dessen politische und historische Bedeutung kaum beachtet wurde. Schulze Wessel beschreibt eindrucksvoll, wie dieses über Jahrzehnte entstandene Desinteresse dazu führte, dass Deutschland auf die Entwicklungen seit 2014 – den Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – zögerlich und oft falsch reagierte.
Das Buch zeigt nicht nur historische Fakten, sondern macht verständlich, wie sehr Geschichte in unsere Gegenwart hineinwirkt. Schulze Wessel stellt Fragen wie:
Was bedeutet historische Verantwortung heute?
Wie können wir aus der Vergangenheit lernen, um das Schicksal anderer Völker besser zu verstehen?
Und warum fällt es manchen so schwer, die Ukraine als eigenständige Nation wahrzunehmen?
In klarer Sprache und mit vielen anschaulichen Beispielen zeigt der Autor, wie sich Wahrnehmungen bilden, wie politische Entscheidungen beeinflusst werden und warum die Ukraine so oft übersehen wurde – mit Folgen, die bis heute spürbar sind. Sein Buch hilft dabei, die Lage in Osteuropa besser zu verstehen und die Bedeutung der Ukraine neu zu sehen.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wer die deutsch-ukrainische Geschichte kennt, wird es schwerer haben, gegenüber dem Schicksal der Ukraine teilnahmslos zu bleiben. Schulze Wessels Buch ist deshalb nicht nur ein historisches Werk, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur aktuellen politischen Diskussion. Es lädt dazu ein, genauer hinzuschauen, Vorurteile zu hinterfragen und die Ukraine als das zu sehen, was sie ist: eine eigenständige Nation mit einer langen, oft dramatischen Geschichte – und ein Land, dem Deutschland viel mehr Aufmerksamkeit schuldet, als es lange erhalten hat.
„Die übersehene Nation“ erklärt klar und verständlich, wie eng Deutschland und die Ukraine historisch verbunden sind. Martin Schulze Wessel öffnet die Augen für Zusammenhänge, die lange übersehen wurden. Informativ, eindrucksvoll und hochaktuell – ein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte.
- Herausgeber : C.H.Beck
- Erscheinungstermin : 7. November 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 287 Seiten
- ISBN-10 : 340682174X
- ISBN-13 : 978-3406821745
- Abmessungen : 14.6 x 2.6 x 22 cm
- 28 Euro
