
In „Dissonanzen“ nimmt uns Flavio Del Ponte mit auf eine ziemlich heftige Reise – und das ist noch untertrieben. Der Typ ist nicht einfach nur Arzt. Er ist Chirurg mit Leib und Seele, jemand, der nicht in sterilen OP-Sälen in der Schweiz geblieben ist, sondern rausgegangen ist. Raus in die Welt, dorthin, wo’s richtig wehtut. In Länder, in denen Krieg herrscht. In Regionen, wo Leid, Tod und Hoffnungslosigkeit zum Alltag gehören.
Del Ponte war in Kambodscha, Vietnam, Ruanda, in der Sahara, in Laos, Mexiko und sogar im Rumänien der Ceausescu-Zeit, wo vernachlässigte Waisenkinder vor sich hin vegetierten. Man kann das nicht schönreden – das, was er da gesehen und erlebt hat, ist teilweise einfach nur grauenvoll. Und trotzdem: Er bleibt Mensch. Er bleibt Arzt. Einer, der sich nicht abwendet, sondern hinsieht. Hinhört. Und handelt.
Ein Leben wie ein Abenteuerfilm – nur echt.
Was dieses Buch so besonders macht? Dass es eben nicht nur von medizinischem Können handelt oder irgendwelchen Heldentaten. Es ist kein Selbstbeweihräucherungsbuch. Del Ponte ist ehrlich. Manchmal auch zweifelnd. Und das macht’s so glaubwürdig. Er startet als junger Arzt voller Hoffnung, landet über die Jahre immer tiefer in den Krisen dieser Welt. Und dabei wird er nicht nur zum Kriegschirurgen, sondern auch irgendwie zum Diplomaten, Vermittler, UN-Berater – und zum stillen Kämpfer gegen das Böse.
Er erzählt von Freundschaften mit Größen wie Kofi Annan, von politischen Spielchen (z.B. wie Condoleezza Rice einen Nachfolgeplan verhindert), aber auch von inneren Kämpfen. Wo hört der Arzt auf, wo fängt der politische Mensch an? Und vor allem: Wie viel Grausamkeit kann ein Mensch eigentlich aushalten?
Krieg ist kein Film – Krieg ist hässlich.
Eins muss man vorher wissen: Das Buch ist nichts für schwache Nerven. Es gibt Bilder. Fotos von Menschen, die durch Landminen verstümmelt wurden. Von Kindern ohne Beine, von Gesichtern voller Schmerz. Und es gibt Worte, die noch härter treffen als die Bilder. Del Ponte beschreibt, was Krieg wirklich bedeutet – nicht strategisch, sondern menschlich. Hautnah. Direkt. Man liest das und denkt sich: Wie zum Teufel kann so etwas immer wieder passieren?
Besonders krass: Der Anlass für dieses Buch war der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Da hat er gespürt: Jetzt muss ich erzählen. Weil er die Bilder kannte. Weil er den Wahnsinn aus so vielen Ländern kennt. Und weil er sich fragt: Lernen wir Menschen denn nie?
Es geht um mehr als Medizin. Es geht ums Menschsein.
Del Ponte ist nicht nur Arzt, er ist auch Philosoph. Er denkt viel nach, zitiert Thomas von Aquin, das Evangelium, spricht über Gut und Böse – aber nicht auf eine abgehobene Art. Sondern ehrlich. Er fragt sich, ob es überhaupt möglich ist, das Böse zu besiegen. Und kommt zu dem Schluss: Das Böse ist das Fehlen des Guten. Ganz einfach.
Und dann schaut er wieder hin, zu den Kindern ohne Hände, ohne Beine. Die trotzdem weitermachen. Und fragt: Welches Leben erwartet die überhaupt? Und man spürt: Für ihn sind das keine „Fälle“. Das sind Menschen. Und genau deshalb bleibt er bis zum Ende seiner Laufbahn ein Arzt aus Leidenschaft.
Ein Rückblick mit Tiefgang.
Das Buch ist kein klassischer Lebenslauf. Es ist eher ein emotionaler Rückblick. Einer, der zwischen Stolz und Traurigkeit pendelt. Zwischen Hoffnung und totaler Verzweiflung. Del Ponte hat 15 Jahre nach seinem Berufsende angefangen, das alles aufzuschreiben. Und man merkt: Der Mann hat viel verarbeitet. Aber er ist noch nicht „fertig“. Er ist neugierig. Sein letzter Satz? „Die Stunde der Auflösung meiner letzten Dissonanz, der meines Lebens, kommt – und ich bin schon fast ungeduldig und neugierig, sie erleben zu dürfen.“ Gänsehaut.
Mein Fazit:
Wenn du denkst, du kennst dich mit Weltpolitik, Krieg oder Humanität aus – lies dieses Buch. Es wird dich umhauen. Del Ponte zeigt nicht nur, wie verrückt diese Welt ist, sondern auch, wie wichtig es ist, den eigenen moralischen Kompass nicht zu verlieren. Er urteilt nicht, er beschreibt. Ehrlich. Klar. Und manchmal brutal. Aber genau das ist der Punkt.
Es ist keine leichte Kost. Aber eine verdammt wichtige.
Ein Buch, das dich verändert.
Und eins, das lange nachhallt.
- Herausgeber : Westend
- Erscheinungstermin : 4. November 2024
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 352 Seiten
- ISBN-10 : 3864894530
- ISBN-13 : 978-3864894534
- Abmessungen : 14.7 x 3.6 x 21.8 cm
- 28 Euro